Wolfgang Niedecken, Kopf der Kölner Band «BAP» verriet in einem Interview mit SRF, dass er oft als Gutmensch beschimpft werde, das hätte ihn früher gestört, heute nicht mehr. Wie können die Wörter «gut» und «Mensch» zu einem Schimpfwort werden? Ein Akt der Rechten. Mit Gutmenschen bezeichnen sie Menschen, die sich für Humanismus einsetzen. Sie diffamieren Toleranz und Hilfsbereitschaft als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischen Imperialismus. Also die totale, völlig abstruse, hinterlistige Umkehrung der ursprünglichen Bedeutung eines empfindsamen, besorgten Bürgers, der sich um seine Mitmenschen kümmert und an einer Verbesserung der Gesellschaft interessiert ist. Niedecken hat darauf die richtige Antwort: «Ja, ich bin gerne ein Gutmensch, was soll ich denn sonst sein, ein Schlechtmensch?»
Die UNO hat diesen Tag neu zum «Internationalen Tag zum Erhalt der Gletscher» ernannt. Ein lauter Alarmschrei, der kaum gehört wird. Das Echo in den Medien? Verschwindend gering. Die Menschen sind nicht wegen der Gletscherschmelze in Aufruhr, nicht wegen des Klimawandels – Aufrüstung ist das globale Kernthema. Als hätten wir keine Kinder, keine Enkelkinder, als hätten wir die Zukunft bereits abgeschrieben. Seit 2000 ist das Eisvolumen der Schweizer Gletscher um 38 Prozent geschmolzen – weltweit sind die Zahlen noch erschreckender. Die Folgen der Gletscherschmelze: vermehrte Lawinen, Erdrutsche, Sturzfluten, Wasserknappheit … Das Sprichwort «Nach uns die Sintflut» ist überholt. Neu müsste es lauten: «Nach uns die Dürre.»
In der ARD-Talksendung bei Maischberger sprechen ein ranghoher Militär und ein Militärexperte abgeklärt, sachlich und mit völliger Selbstverständlichkeit über den grossen Krieg in spätestens vier Jahren, auf den man sich jetzt mit aller Vehemenz und Eile vorbereiten muss, will man in Europa nicht untergehen. Einerseits ärgere ich mich, dass die Militärköpfe auf der ganzen Welt inklusive der Schweiz jetzt diesen vor kurzem noch undenkbaren Aufschwung erleben, und andererseits stelle ich mir besorgt vor, wie das wäre, ein Leben zwischen Luftschutzkeller und zerstörten Häusern. Dass Trump bei einem Interview mit Fox aus Spass so tut, als würde er den Atomknopf auf seinem Tisch im Oval Office drücken, passt zu dieser absurden neuen Welt. Es ist zum Totlachen.
Die Menschen haben kein Interesse an der Wahrheit. Sie wollen das glauben, was ihnen guttut, oder von dem sie denken, dass es ihnen etwas nützt. Wenn also jemand sagt, es gäbe keinen Klimawandel, dann tut das gut, weil man keine Angst haben und sich nicht einschränken muss. Wenn einer sagt, jetzt beginnt das goldene Zeitalter, dann glaubt Mensch das nur allzu gern. Man nennt die Lügen alternative Fakten, sie vermitteln ein angenehmeres, einfacheres Weltbild. Heute können Politiker das Gegenteil der Wahrheit behaupten. So abstrus und offensichtlich falsch diese Behauptungen auch sind, sie werden geglaubt. Zum Verrücktwerden. Wo sind die hellen Geister? Das wird vernichtende Konsequenzen haben, denn ohne Wahrheit gibt es keine Gesellschaft, die zusammen halten und funktionieren kann.
Das (Un-)Wort dieser Zeit heisst Gaslighting, die Irreführung der Menschen durch Verdrehungen und Lügen. Google sagt beispielsweise: In der psychologischen Kriegsführung dient Gaslighting als Methode der Meinungsmanipulation und Propaganda. Insbesondere Personen mit dissozialer, narzisstischer oder psychopathischer Persönlichkeitsstörung wenden diese Methode an. Trump sagt beispielsweise, der Sturm auf das US-Kapitol mit Todesopfer sei ein friedlicher Protestaufmarsch gewesen gegen die von ihm behauptete Manipulation der Präsidentschaftswahl, bei der er abgesetzt wurde. AFD-Weidel sagt beispielsweise, Hitler sei ein Kommunist gewesen, genau das Gegenteil von dem, was ihre Partei sei. Gegen politisches Gaslighting hilft kritisches Denken sowie die Stärkung der Informationskompetenz. Das wiederum bedingt Engagement, Bildung und Haltung. Und es bedeutet Arbeit.
Zum Sechzigsten überlasse ich Wilhelm Busch das Wort: Das grosse Glück, noch klein zu sein, sieht mancher Mensch als Kind nicht ein und möchte, dass er ungefähr so 16 oder 17 wär‘. Doch schon mit 18 denkt er: «Halt! Wer über 20 ist, ist alt.» Warum? Die 20 sind vergnüglich – auch sind die 30 noch vorzüglich. Zwar in den 40 – welche Wende – da gilt die 50 fast als Ende. Doch in den 50, peu à peu, schraubt man das Ende in die Höh'! Die 60 scheinen noch passabel und erst die 70 miserabel. Mit 70 aber hofft man still: «Ich schaff' die 80, so Gott will.» Wer dann die 80 biblisch überlebt, zielsicher auf die 90 strebt. Dort angelangt, sucht er geschwind nach Freunden, die noch älter sind. Doch hat die Mitte 90 man erreicht – die Jahre, wo einen nichts mehr wundert –, denkt man mitunter: «Na – vielleicht schaffst du mit Gottes Hilfe auch die 100!»
Jemand, der mit Trump im Gerichtssaal sass, ganz in seiner Nähe, hat erzählt, dass der Kerl Windeln trage und erbärmlich stinke. Jetzt hat sich mein Abscheu um eine Sinneswahrnehmung erweitert. Ich bringe den Geschmack nicht mehr vom Bild los. Und ich frage mich, welche Rolle die First Lady in diesem Spiel einnimmt, die in der zweiten Amtszeit nicht mehr mit ins Weisse Haus zog und deren Vater so alt ist wie ihr Mann.
Worum es Trump und dem rechten Pack wirklich geht. Sie wollen die demokratischen Institutionen, die hart erkämpften Errungenschaften allesamt zerstören. Keine Gesetze, keine Gerichte, keine Opposition, nichts, das Entscheidungen verlangsamen, aufhalten oder umkehren könnte. Ohne Wahlen regieren, wie Autokraten, Könige, Diktatoren, Despoten. Wenn China das kann, Russland auch und sogar neuerdings die Türkei, dann will das Trump auch können. Ein verdammtes, gefährliches, verantwortungsloses, trauriges Kinderspiel von machtbesoffenen Selbstverliebten. Wetten, Trump will versuchen, die nächsten Präsidentschaftswahlen abzuschaffen oder ad absurdum zu führen, damit er über 2028 hinaus an der Macht bleiben kann…?
Wie viele Soldaten sind für die USA im Kampf gegen den Kommunismus und für die Erhaltung der Demokratie gestorben? Man kann sie nicht zählen. Man opferte sie, um die Freiheit des Einzelnen, um den Rechtsstaat und die Errungenschaften der aufgeklärten Welt zu verteidigen. Und jetzt jubelt die Hälfte der US-Amerikaner und viele andere Menschen weltweit einem egomanen Irren zu und lassen ihn mit seiner Kettensäge-Crew all das leichtfertig, in Windeseile und sozusagen widerstandslos von innen zerstören, wofür man all die Jahre, all die Toten in Kauf genommen hat. Wie zum Teufel soll man das verstehen? Und warum zum Henker gibt es Menschen in meinem Umfeld, die das gut finden?
Lesebrillensuchen ist zu meinem unfreiwilligen Hobby geworden, so oft habe ich sie verlegt. Manche finden sich nie mehr wieder, manche mit nur noch einem Bügel, manche vollkommen verschmutzt. Es ist zum Verrücktwerden. Wie wichtig sie geworden sind, weiss man erst, wenn sie nicht mehr aufzufinden sind, wenn plötzlich die Nahsicht fehlt und die Nachsicht sich in Unmut verwandelt, weil man das Kleine nicht mehr sieht, das Wesentliche nicht mehr erkennt und so den Durchblick zu verlieren droht. Es gibt, so habe ich mir sagen lassen, Menschen, die Brillen tragen, obwohl sie gar keine brauchen. Brillen mit Fenstergläsern, damit würden sie intelligenter aussehen, meinen sie. Keine Ahnung, ob das so ist. Ich weiss nur, dass ich ohne Lesebrille dumm dastehe, und dass sich ohne Lesebrille Lesebrillensuchen als eine immer grösser werdende Herausforderung darstellt.
Das neue Album von Patent Ochsner ist da. Rund um die Veröffentlichung gab Büne Huber viele Interviews. In einem beschrieb er, wie früher in den Achtzigern Musik konsumiert wurde – zumindest in seinem Umfeld. Einer kaufte die Platte, die gerade angesagt war und lud die Freunde zu sich nach Hause ein. Zusammen hörten sie sich die Platte durch, lasen die Texte mit, philosophierten über die Songs, wussten danach, wo das Album aufgenommen wurde, wer da alles im Hintergrund mitgeholfen hat, jedes Detail war wichtig. Musikhören als soziales Happening. Heute steckt man sich die Kopfhörer in die Ohren, zieht sich zurück und geht in sich. Was mir am meisten fehlt, sind die schönen Covers der Platten und die eingelegten Textblätter – die haptische Dimension des Musikhörens.
Zum Tod von Marianne Faithfull die Übersetzung meines Lieblingssongs von ihr: «The Ballad of Lucy Jordan».
Die Morgensonne berührte leicht – die Augen von Lucy Jordan. In einem weissen Vorstadtschlafzimmer, in einem weissen Randbezirk. Wie sie so da lag, unter ihrer Decke, träumte sie von tausend Liebhabern, bis die Welt orange wurde und das Zimmer sich zu drehen begann.
Im Alter von siebenunddreissig wurde ihr klar, dass sie niemals in einem Sportcoupé durch Paris fahren und den warmen Wind in ihren Haaren spüren würde. Deshalb liess sie das Telefon klingeln und sass da, nur sanft singend. Kleine Kinderliedchen, die sie sich eingeprägt hatte, in ihres Vaters Polstersessel.
Ihr Ehemann ist auf der Arbeit und die Kinder sind in der Schule und es gibt für sie ach so viele Möglichkeiten, den Tag zu verbringen. Sie könnte stundenlang das Haus sauber machen oder die Blumen anders hinstellen. Oder, sie könnte auch nackt die schattige Strasse entlang rennen und die ganze Zeit dabei schreien.
Im Alter von siebenunddreissig wurde ihr klar, dass sie niemals in einem Sportcoupé durch Paris fahren und den warmen Wind in ihren Haaren spüren würde. Deshalb liess sie das Telefon klingeln und sass da, nur sanft singend. Kleine Kinderliedchen, die sie sich eingeprägt hatte, in ihres Vaters Polstersessel.
Die Abendsonne berührte leicht – die Augen von Lucy Jordan. Auf dem Dach, auf das sie geklettert war, als das Gelächter allzu laut wurde. Und sie verbeugte sich und knickste vor dem Mann, der seinen Arm ausstreckte und ihr seine Hand anbot und sie hinunter zu dem langen, weissen Wagen führte, der hinter der Menge wartete.
Im Alter von siebenunddreissig wusste sie: Sie hatte die Ewigkeit gefunden.
Und sie fuhr mit ihm durch Paris – mit dem warmen Wind in ihren Haaren ...
Am 28. Januar 1985 versammelten sich die grössten US-Pop-Stars unter dem Namen «USA for Africa» (wobei «USA» für «United Support of Artists» steht) zusammen im Studio und sangen «We Are the World. We Are the Children». Diese Grössen zusammenzubringen, war eine Sensation und die amerikanische Antwort auf das 1984 von Bob Geldof und Midge Ure lancierte Brit-Projekt «Band Aid», das mit dem Song «Do They Know it's Christmas» auf die Hungersnot in Äthiopien reagierte und Spenden sammelte. Gekrönt wurden die beiden Projekte mit dem Wohltätigkeitskonzert «Live Aid», das am 13. Juli 1985 gleichzeitig in London und in Philadelphia stattfand und zwei Milliarden Menschen in insgesamt 150 Ländern vor dem Bildschirm zusammenbrachte und für das Thema «Hunger in Afrika» sensibilisierte. Was wurde aus dieser Steilvorlage von damals? Nicht viel bis gar nichts: Die aktuelle Hungerkatastrophe im Sudan, von welcher 25 Millionen Menschen dramatisch betroffen sind, ist beispiellos. Ein vergessenes Massensterben, das in den Medien kaum Erwähnung findet. Und es steht der politischen Agenda der Parteien in der wohlhabenden Welt, die geprägt ist von Migrationsstopp, Ausgrenzung, Ausschaffung und Nationalismus, gerade ganz quer im Weg.
Und wenn die Ozeane auf diesem Planeten so warm sein werden, dass sie das in ihnen gespeicherte CO₂ abgeben und nicht mehr wie bisher speichern. Also statt zur Abschwächung des Klimawandels beizutragen, plötzlich zu einer Quelle des Treibhausgases werden, was wissenschaftlich belegt passieren wird, dann stellt sich die Frage, ob wir Dummen einen Platz neben Elon Musk und Mark Zuckerberg im Bunker bekommen, oder auf dem Mars, um die nächsten tausend Jahre auszusitzen, bis die Atmosphäre wieder abkühlt ist.
Erschreckend wie wenig Widerspruch es gibt gegen die «Das Boot ist voll»-Rufe. Die Parteien jeder Ausrichtung versuchen sich in der Migrationsfrage gerade gegenseitig in Lautstärke und Radikalität zu überbieten. Und die Wählerschaft springt gedankenlos auf. Wo bleibt unsere Seele, unsere Moral? Wofür stehen wir eigentlich? Was genau wollen wir mit der Ausgrenzung erhalten? «Illegale Einwanderer sind keine Menschen, es sind Tiere», sagt Trump, «eiskalte Mörder, Verrückte, die aus den Irrenhäusern der armen Länder losgeschickt wurden, um uns die Kehle aufzuschlitzen, uns alle zu vergiften.» Applaus, Applaus, totale Volksverblödung. Hilflos agieren wir angesichts des Migrationsproblems, verlieren zunehmen alle unsere Bedenken, treten den Humanismus mit Füssen, verspotten die, welche ihn noch hochhalten. Wozu erst werden wir hier im Wohlstandsgebiet imstande sein, wenn wegen des Klimawandels grosse Teile des globalen Südens nicht mehr bewohnbar sein werden und die Flüchtlingsströme ins Unermessliche steigen?
Dieses gesetzte Leben, als müsste man hineinfallen, worin in etlichen Teilen alles schon vorausgeworfen wurde. Das Eigentliche wird kommen, weil es kommen muss. Unsere eigene Verfassung, die erfüllt ist von Unerledigtem, das jetzt unbedingt erledigt werden muss, sonst nicht vollständig ist. Die Zeit, sie drückt.
Zum speiben alles zam! Und das ist leider erst der Anfang vom Ende: am 20. Januar wird Trump vereidigt, am 23. Februar wählt Deutschland, im Mai Polen den Präsidenten, im Juni gibts wohl Neuwahlen in Frankreich. Doch zurück zu Kickl mit Jelineks Worten: «Wenn er erst die Fremden alle ausgetrieben haben wird und alle von uns, die ihm nicht folgen wollen, gleich mit, indem er seinen glühenden Anhängern, die nicht wissen, zu welchem Koffer sie gehören, so viele Wohltaten erweisen wird, dass sie darunter schmähstad einknicken.» Ach ja, er möcht «Volkskanzler» werden. So nannte sich schon 'mal einer.
Ich überlege mir schon mal, was ich mir vornehmen und wünschen soll für das neue Jahr. Aber ich zögere, weiss nicht, wann Wünsche zuletzt erfüllt, wann Vorsätze umgesetzt wurden. Ist doch immer dasselbe: unnütze Augenwischerei!
SRF hat einen Dok-Film über Büne Huber gemacht, den Kopf von «Patent Ochsner», der mich schon vier Fünftel meines Lebens begleitet. Endlich mal ein authentisches Porträt eines Popstars, nicht dieses geschliffene, unerträglich geschönte und völlig verfälschte Blabla. Büne, wie er ist – in all seinen Facetten. Er erzählt, dass ihn einst ein Zitat von Bruce Lee beeinflusst habe. Der sagte: «Be Water!». Wasser passt sich an, ist geschmeidig, geht mit, läuft weiter, eckt nicht an, ist Fluss im Fluss, ist Glas im Glas. Büne hat das weiterentwickelt zu «Be Oat!». Hafer ist ein Getreide, deren Halme bei einem starken Sturm nicht abknicken – im Gegensatz zu anderen Pflanzen. Hafer legt sich hin und richtet sich, wenn der Sturm vorbei ist, wieder auf. Schönes Bild.
Menschen zu verlieren, fällt schwer. Auch, weil diese Abschiede unweigerlich dazu führen, dass man sich mit dem eigenen Tod beschäftigen muss – ob man will oder nicht. Und dann merkt, dass man darauf nicht vorbereitet ist, weil man diese Gedanken lieber verdrängt, wegsperrt. Es ist wie ein fernes Gewitter, dessen Donnergrollen näher kommt, dessen Blitzeinschläge häufiger werden, man möchte es überhören, doch es lässt sich nicht stummschalten. Nicht mehr.
«Git′s über üs e Himu, wonis nid lat ungergah?» Gute Frage, Büne. «Liecht si mir gsi, wie Blüeteschtoub, über dunkle Wulke, d Jahr si cho u vergange, hei Schpure hingerlaa u aus, wo cha verbräche isch broche u nümm da.» Klar ist nur: «I vergisse di nie, vergisse höchschtens dr Schluss, blybsch i mym Härz u hie u dr Räscht blybt duss.»
Im Bücherladen, vor dem Regal: Schweizer Autor*innen. Da finden sich neben den Zeitgenossen auch noch Werke von Max Frisch (Andorra, Fragebogen), Friedrich Dürrenmatt (Der Besuch der alten Dame, Die Physiker, Das Versprechen), nach Niklaus Meienberg sucht man jedoch vergeblich. Der Mann mit der wilden Unfrisur, welche Aufruhr, Unrast und Furor zum Ausdruck brachte, die er in sich trug. Wie kommt es, dass man ihn nicht mehr findet? Er, der mich mit seinen Reportagen über Fritzli Chervet und Jo Siffert als junger Student dermassen beeindruckt und beeinflusst hat? Ein brillanter Wuschelkopf, ein begnadeter Schreiber, der aus der Sicht der einfachen Leute den Reichen und Mächtigen auf die Finger klopfte, auf die Füsse trat. Warum sind seine Werke nicht Pflichtlektüre in der Ausbildung künftiger Journalisten? («Eine eigene Sprache finden, sich nicht modellieren lassen»). Warum kennen die Jungen nicht mal mehr seinen Namen? Am 22. September 1993 nahm sich Niklaus Meienberg das Leben. Er vergiftete sich und stülpte sich zuletzt einen Kehrichtsack über den Kopf, so unversöhnlich war er mit sich und der Welt. Höchste Zeit, ihn wiederzubeleben.
Enttäuschte Erwartungen ans Leben schmerzen. Aber je älter man wird, desto mehr lassen die Schmerzen nach, weil man sich von immer mehr Träumen verabschiedet. Man wird gelassener, zufriedener, langweiliger. Habe heute eine Studie angeschaut, die besagt, dass Menschen aus Europa den Tiefpunkt mit 47 erreichen. Danach geht es wieder aufwärts. Wichtig sei dabei auch, wie man den Geburtstag feiere. Okay, das war jetzt frei übersetzt. Aber ändert nichts daran: Das wird im Februar eine heisse Party.
Eine Online-Zeitung, die absolut neutral ist und ohne Verwendung manipulativer Sprache reine Fakten wiedergibt, das ist der Ausgangspunkt des Romans «Die Abschaffung des Todes» des deutschen Schriftstellers Andreas Eschbach. Nichts Vorgesagtes, keine Propaganda oder Effektheischendes, keine von Interessen gesteuerten Absichten, sondern bloss die pure Wahrheit aus Fakten. Eine tolle Vorstellung. Es gibt allerdings nur hundert Abonnenten, aber diese zahlen dafür eine Million Euro pro Jahr. Die exklusive Wahrheit ist demnach bloss den Reichen vorbehalten, die mit diesem Wissen noch reicher werden wollen. Eine interessante Metapher, um den Zustand des Journalismus zu beschreiben, die Desinformation durch soziale Medien und hemmungslose Lügen-Politiker.
Ist es nicht bemerkenswert seltsam, dass wir Menschen uns früher in Telefonkabinen gezwängt haben, den Hörer an die Lippen gepresst, in die Muschel nuschelnd, damit uns ja niemand zuhören kann? Und dass wir heute im Zug am Handy hemmungslos und in Lautstärke unser Liebesleben vor allen ausbreiten. Oder Internas aus dem Büro, die nun wirklich niemanden etwas angehen sollten. Was bloss ist da in uns verrückt?
Es gibt viele: die Frauen, die Umwelt, die Minderheiten, die Demokratie, die Ukraine, Taiwan und nicht zu vergessen: die Sprache. Absolute Verrohung. Welcher seiner Fans, Verehrer, Gläubigen, Wähler fühlt sich jetzt noch zurückgehalten, wenn es um die Sprache geht? Der mächtigste Mann der Welt, der am Mikrofon eine Fellatio simuliert und dafür wahnwitzigen Applaus bekommt, dem keine Lüge zuwider ist, der seine Gegner rüde verunglimpft, beschimpft und beleidigt. «Joe Biden ist geistig beeinträchtigt worden. Kamala wurde so geboren.» Tosender Applaus. Geebnet hat ihm dieser Erfolg und die Freiheit, sowas ungestraft aussprechen zu können, auch der Aufstieg von rechten Propagandasendern wie Fox News und der flächendeckende Siegeszug der sozialen Medien, einst als Instrument zur Förderung der Demokratie gefeiert, längst ins Gegenteil verkehrt, in einen Multiplikator von Populismus, Polarisierung und Desinformation, die Wahlen mitentscheiden, zumindest wesentlich beeinflussen können. In einen Ort der Verdummung und Verrohung.
Denkwürdiger, unheilverkündender Tag. Muss ich erst mal darüber nachdenken, was das bedeutet. Fest steht: Die Wirkung von Musikgrössen wie Bruce Springsteen, Taylor Swift, Lady Gaga und anderen, die Wahlempfehlungen abgegeben haben, verpufft bedeutungslos, wenn auf der anderen Seite Heilsversprechen stehen, so absurd sie auch sind. Wählt mich und ich bringe euch am Abend ins Bett, erzähle euch ein Guetnachtgschichtli mit Happy End und wenn ihr am Morgen aufwacht, ist alles gut und die Welt ein friedlicher Ort mit Vogelgezwitscher. Ihr seid plötzlich reich und schön, auf der grünen Wiese spielen die Kinderlein und am blauen Himmel ist Sonnenschein.
Nach vielen unglücklich verlaufenden Liebesaffären fand Edith Piaf in den Vierzigern endlich ihr vermeintliches Glück. Sie verliebte sich unsterblich in den Boxer Marcel Cerdan. Der hatte zwar Frau und Kinder in Marokko, trotzdem liessen sich die beiden auf eine leidenschaftliche Affäre ein. Piaf schrieb für Cerdan den Song «Hymn à l'amour». Er starb am 28. Oktober 1949 bei einem Flugzeugabsturz auf dem Weg zu ihr nach New York. Am Abend sang Piaf im Klub «Versailles» für ihn die «Hymne à l'amour». Das herzzerreissende Chanson wurde von Céline Dion an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2024 – im ersten Stock des Eiffelturms stehend – wiederbelebt. Ich stand davor, tief bewegt und vom Dauerregen völlig durchnässt. Vier heilige Minuten für die Ewigkeit. «Nous aurons pour nous l'éternité. Dans le bleu de toute l'immensité…»
Also sowas muss man auch erstmal aufs Papier bringen: «Ich hab gesagt, komm in mein Herz. Und du bist mit Stilettos rein. Mit Flatterangst am Beckenrand. Und Mut wie bei Piraten. Der siebte Himmel schliesst heute um halb acht. Für alle Panoramamenschen. Der Tag ist gegessen. Die Nacht fängt jetzt an.» (Fortuna Ehrenfeld kann mehr als fluchen)
Ich jogge auf der Finnenbahn (ja, die gibt es immer noch) durch den Herbstwald. Das Ganze gleicht eher einem röchelnden Lastschlepper als einem sportlichen Flitzer. Aber das ist egal, denn die Wirkung ist dieselbe. Nach zwei, drei Runden werden die Gedanken klarer, sie schälen sich aus der Verpackung, werden lebendig, zu Sätzen, Ideen, neuen Vorsätzen, Plänen. Doch etwa nach der sechsten Runde beginnen die Psychospielchen. Wie überliste ich die aufkommende Müdigkeit, damit ich zwölf schaffe? Wenn ich Glück habe, startet in der auf Zufallsreihenfolge eingestellten Playlist gerade ein motivierendes Lied, am besten eines, bei dem man in Gedanken mitsingen kann. Das reicht dann vielleicht für zwei Runden. Es bleiben immer noch vier, uff!
Ich habe mich lange gefragt, was ein ehemals sehr guter Freund veranlasst hatte, mir eines Abends aus dem gefühlten Nichts die Schimpfworte «Arschloch, Wixer, Hurensohn» entgegenzuschleudern. Was mich erstens völlig auf dem linken Fuss erwischte und zweitens der Anfang vom Ende unserer langjährigen Freundschaft war. Jetzt höre ich ein Lied der Kölner Kultgruppe «Fortuna Ehrenfeld» und was singt Martin Bechler da? «Wirklich starker Auftritt, sehr deutlich und sehr klar. Im Zeitalter der Jogginghosen ist 'n kerzengerader Abgang immer 'ne Option. Arschloch, Wixer, Hurensohn.» Jetzt erst verstehe ich: Der Ex-Freund hatte damals vielleicht bloss gesungen. Wie auch immer, kalter Kaffee: Ich freue mich auf das Konzert von «Fortuna Ehrenfeld» am Mittwoch in Zürich. Ich werde aus voller Kehle mitsingen: «Wirklich starker Auftritt...»
Nebenbei bemerkt (à propos): KI zu definieren, ist gar nicht so einfach. Man kann Computer füttern mit allen möglichen Daten und Analysen, zum Beispiel allen Schachpartien von Garri Kasparov. Aufgrund dieser Daten kann der Computer Antworten (Züge) vorschlagen. Aber das ist offenbar noch nicht KI. Erst, wenn der Computer selber zu lernen lernt, sich also selber weiterentwickelt, kann das als Künstliche Intelligenz verstanden werden. Und erst dann wird KI für die menschliche Existenz gefährlich. Wie weit da die Forschung und die Technik ist, weiss ich nicht. Was ich vermuten kann: Die Entwicklung des Lebens, wie wir es kennen, wird rasend schnell fortschreiten und sich radikal verändern.
Die sehenswerte Serie «Rematch» auf «arte» hat mich nicht losgelassen und lässt mich immer noch nicht los. Mensch gegen Computer, der Beginn der Zukunft war also 1997. Da war ich Datenanalyst in der Sozialforschung. Das Internet war eine neue, grosse Unbekannte, die man gern näher kennenlernen wollte und musste. Man brauchte DOS-Befehle, um da hineinzukommen und bekommen hat man? Nicht viel. Und wo sind wir jetzt? Ich habe Mühe damit, KI als meinen Freund zu akzeptieren, der mich unterstützt, der mir hilft, besser zu werden, der mir ermüdende Arbeit abzunehmen verspricht. Er will doch bloss und einzig meine Überflüssigkeit, will, emotionslos, besser sein als ich. Wie kann ich ihn austricksen? Was weiss er noch nicht über mich? Ich verschwinde – wir alle werden verschwinden und ersetzt werden. Ich sitze im Zug, der überfüllt ist mit Menschen. Alle starren auf ihre Smartphones, kommunizieren mit… sich selbst. Apokalyptisch, dieses Bild.
«For those who come to San Francisco, Summertime will be a love-in there. In the streets of San Francisco. Gentle people with flowers in their hair.» War das nicht eben erst? Das Gefühl von Freiheit, Leichtigkeit, Frieden, ein rosa Leben, freie Liebe, ein sanfter Rausch und alles ist wunderschön? Und jetzt das: Blick-Reporter Samuel Schumacher besuchte die Drogenhölle von San Francisco, wo tausende Junkies regungslos auf den Strassen liegen, süchtig nach der synthetischen Monsterdroge Fentanyl, die 50-mal so stark ist wie Heroin. Er beschreibt die schlimmste Drogenepidemie in der amerikanischen Geschichte. Wer noch steht, tut das unnatürlich weit vornübergebeugt wie Zombies aus einem Horrorfilm. Lösung des Problems? Keine in Sicht. Welt, wo führt das hin?
Ich habe heute Z in eine Klinik begleitet, in der sie zwölf Wochen bleiben wird. Die Klinik betreut und behandelt Menschen, die an Essstörungen leiden. Am Empfang mussten wir etwa dreissig Minuten warten. In dieser Zeit gingen mehrere Mädchen vorbei, junge Frauen, alle etwa im gleichen Alter, alle spindeldürr. Zwei Stunden später wurde die neue Nobelpreisträgerin bekannt. Ausgezeichnet wurde die Südkoreanerin Han Kang. Ich musste sie googlen, kenne sie und ihre Bücher nicht. Für «Die Vegetarierin» bekam sie den internationalen Booker Prize, lese ich. Das Buch handelt von einer unscheinbaren Hausfrau, die eines Tages kein Fleisch mehr isst, magersüchtig wird und von einem Leben als Pflanze träumt. Und jetzt überlege ich, was das Essen oder das Nichtessen mit uns Menschen macht. KI soll es in absehbarer Zukunft möglich machen, dass wir uns mit Tieren unterhalten können. Würden wir noch Fleisch essen, wenn die Tiere uns vor der Schlachtung ihre Gefühle mitteilen könnten?
John Lennon wäre heute 84 Jahre alt geworden. Er hatte denselben Jahrgang wie mein Vater. Doch eigentlich erinnere ich mich mehr an Lennons Todestag. Es war der 8. Dezember 1980. Ich war mitten in der Pubertät, hörte New Wave und Soul. Dann kam die Nachricht, dass Lennon erschossen wurde. Es war ein Schock. Mein Vater weinte. Am nächsten Tag schoss die neue Single «Starting Over» die Hitparaden hoch. Der Mann aus Liverpool war wieder ganz oben, wenigstens seine Musik. Und sie ist bis heute nicht unterzukriegen. Anlässlich seines Geburtstags erscheint ein Box-Set mit Remixes seines Songs «Mind Games», der 1973 erschien und mir in den Jahren nach Lennons Tod ein treuer Begleiter war, nachdem ich mich aufgemacht hatte, diesen Künstler posthum zu entdecken. Gegen 100 Franken soll das Set kosten. Da hole ich doch lieber meine alte Vinyl-Scheibe aus dem Regal. «We're playing those mind games together.»
Ich liebe Wien, besonders die Bezirke Neubau und Josefstadt mit ihren Cafés, Beisln und Kleingeschäften. Zudem schläft es sich nirgendwo wohliger als in den Betten des Altstadt-Hotels, meinem Lieblingsort. Zehn Gehminuten davon entfernt befindet sich das Volkstheater. Dort hängt neuerdings ein Schild, das klarmacht, welche politische Richtung für das Haus bestimmend ist. «Rechts ist bei uns nur Haupteingang, Kartenservice, Dunkelkammer & Bühneneingang.» Ein Statement gegen den Rechtsruck bei den Nationalratswahlen, bei denen im September die rechtsextreme FPÖ, 1955 von ehemaligen Nazis gegründet, mit 28,8 % stärkste Partei im Land wurde. Im Neubau-Bezirk wählten keine 10 % die FPÖ. Über 50 % der Stimmen gingen da an die Sozialdemokraten und die Grünen.
Dann lief dieser Song, der mich wie ein Blitzschlag traf, mich zurückversetzte in die Zeit, als das Leben endlos schien, auf einen Weg, der gepflastert war mit unendlich vielen Türen und zahllosen Möglichkeiten. Und heute weiss ich, dank der Erfahrung des Älterwerdens, wie schnell die Jahre verrauschen und wie das Gefühl der Endlosigkeit nach und nach verschwindet, bis es weg ist, von der Bühne verschwunden, an deren Grenze zum Publikum eine Wand steht, die aus quaderförmigen Papp-Bausteinen besteht und Stein um Stein höher wird. Dahinter steht Roger Waters und singt «Goodbye cruel world, I'm leaving you today». Im Saal sitzt Rilke und melancholisiert den Herbst: «Befiehl den letzten Früchten voll zu sein: gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süsse in den schweren Wein.»
Wie schön es ist, eine Langspielplatte in den Händen zu haben, die man aufklappen kann, der ein Textblatt zum Festhalten beiliegt, mit dem man schliesslich versteht, was so berührend ist, seit man die Songs zum ersten Mal gehört hat. «Der Mond luegt haub u chaut.». Und dann dieses Liebeslied voller Zärtlichkeit, das schöner nicht sein könnte und das einem bei Kuno Laueners Mantra über die Verlustangst, «bi mr blibe bitte, bi mr blibe bitte», dann doch leer schlucken lässt. Oder diese Zeile, so einfach, so wunderbar: «U mis einsame Härz, wo chlopfed u chlopfed u chlopfed u chlopfed». Es knischtered äs bitzli auf dem Plattenteller und in meinem Bauch auch.
Im Sommer haben sie in Santiago Ärger mit einigen Pilgern. Die Stimmung gleiche oft derjenigen rund um ein Fussballspiel mit lauten Fans. Scharen von Pilgern würden die Zielankunft auf der Praza do Obradoiro ausgiebig feiern und das von frühmorgens bis spätabends. Einige gingen weiter, würden den Verkehr lahmlegen oder sonst wie wildern. Einwohner, die das Geld dazu haben, würden in den Sommermonaten wegfahren, weil sie die Lärmbelästigung nicht aushielten. Der Camino de Santiago wird zunehmend und alarmierend zum Opfer des eigenen Erfolgs. In den Siebzigern haben sich nur wenige Menschen auf die Pilgerreise gemacht. Jetzt ist der Weg gesäumt von Wanderern jeden Alters und Geschlechts. Ich aber habe die Stimmung auf dem Platz ganz anders wahrgenommen – erhaben und berührend. Die Angekommenen liegen sich in den Armen, setzen sich vor der imposanten Kathedrale auf den Boden, legen sich hin, den Kopf auf den Rucksack gelehnt, Blick hinauf auf das gigantische Bauwerk. Die Schuhe haben sie zuerst abgelegt und sich die wunden Füsse, die Knöchel, die Waden massiert. Viele weinen, ein paar beten, alle machen Selfies, viele in Jubelposen. Man bekommt eine Vorstellung, was so eine Reise in einem Menschen auslösen mag.
Stadt der Pilger, der überrissenen Preise, der vollen Hotels, der leeren Seitengassen, der Bettler, der Bedürftigen, des Verfalls, der hübschen Cafés, der vielen Nationalitäten, der schönen Pärke, des heiligen Jakobus, der magischen Kathedrale. Noch nie habe ich eine Kirche gesehen, die so proppenvoll war, dass die Menschen während der Messe am Boden sassen (die Spätgekommenen) oder lagen (die müden Pilger, die Peregrinos aus aller Welt).
Viele Tote gab es in A Coruña zu Beginn des spanischen Bürgerkriegs 1936. Unbewaffnete Republikaner versuchten vergeblich, den Putsch des Militärs zu verhindern. Die Stadt wurde zur galizischen Hochburg der Nationalisten. Heute erinnert kaum mehr etwas an diese dunkle Zeit. Die Stadt ist eine faszinierende Unschönheit, die im Herzen den herrlichen Sandstrand und die 13 Kilometer lange Uferpromenade mit dem Herkulesturm als Wahrzeichen trägt.
In Covadonga, dem asturischen Dorf, in dem es keine hundert Einwohner gibt, dafür viele Touristen, welche die Basilika und das Kloster besichtigen und natürlich die Grotte mit der «Virgen de Covadonga» und den Gebeinen des christlichen Königs Pelayo, der sich erfolgreich gegen die muslimischen Eroberer wehrte. Ein heiliger Ort und auch der Geburtsort von Primitivo, dem spanischen Maurer, der im bernischen Madiswil bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam. Und der so gerne spanische Poesie zitierte. So zum Beispiel das Cançion de Otoño en Primavera von Rubén Darío: «Jugend, du göttlicher Schatz, / du gehst weg, kommst nie wieder zurück. / Wenn ich weinen will, weine ich nicht, / und manchmal weine ich, ohne es zu wollen.» Primitivo ist einer der zwei Romanhelden im berührenden Büchlein von Pedro Lenz. Dass ich gerade in Covadonga bin, während ich «Primitivo» lese, ist ein wunderbarer Zufall.
Stadt der Kontraste, eingebettet in eine grüne Hügellandschaft, uneben, modern und schön, alt und verbraucht, gezeichnet von industrieller Arbeit, feucht, herb, kunstvoll, faszinierend. Stadt der Jogger, der Menschen am Handy, der Brücken, der Pintxos, der stillen Poesie. Ich habe dich eingeatmet und wir fühlen uns.
Missbrauchsskandale in der Kirche, wo man hinliest. Auch über «organisierten Missbrauch» wird berichtet. Mich überkommt ein Schauer, wenn ich mir eine Kirche anschaue, die dunklen Ecken und Kabäuschen sehe, die Stille spüre, das Knistern, die dicken Türen betrachte, den kitschigen Prunk. 1992 sang Sinéad O'Conner (†56) in der Sendung «Saturday Night Live» den Bob-Marley-Song «War» und änderte den Text so ab, dass er zu einer eindringlichen Anklage gegen Kindesmissbrauch wurde. Am Schluss zerreisst sie ein Bild von Papst Johannes Paul II. Sie wurde dafür geächtet und geschmäht. Sie war ihrer Zeit weit voraus. Sie fehlt unendlich. Man kann ihre mutigen Auftritte googeln. Lohnt sich.
Seltsames Erlebnis gehabt. Die aufwühlende Banksy-Ausstellung in Oerlikon ZH besucht. Eindringliche Kunstwerke zu politisch hochbrisanten Themen und volltreffende Kritik am Konsumverhalten der Menschheit, mit Ohnmacht und Folgen. Viele Besucherinnen und Besucher, die andächtig interessiert durch die Räume schlendern, sich die Multimedia-Show anschauen, die Bilder, die Murals, die Installationen. Der letzte Raum vor dem Ausgang ist der Shop. Vollgepackt mit T-Shirts, Pullis, Kaffeetassen, Anstecker, Bücher, Poster, Kalender, Magnetchen, und vielem mehr. Alles erhältlich zu überrissenen Preisen. Und die Besucher-innen und Besucher langen kräftig zu, kaufen, kaufen, kaufen. Ich frage mich grad, ob dieser Raum nicht doch noch integraler Teil der Ausstellung, Intention des Künstlers ist, der uns hier kurz vor dem Exit noch einmal den Spiegel vor die Augen hält. Ich hoffe ein bisschen, dass es so ist.
Schon speziell, wenn man etwas als Top-Secret-Information erzählt bekommt, das einen persönlich betrifft, man es aber unter keinen Umständen weitersagen dürfe, bis es offiziell verkündet wird, und nur ein exklusiver Zirkel eingeweiht sei, man dann kaum die Türe hinter sich zugemacht hat und schon angesprochen und einem um die Ohren gehauen wird, was man gerade exklusiv erfahren hat, und auf die erstaunte Nachfrage «wie zum Teufel ...» zu hören bekommt, dass das ja eh alle längst wüssten. Kommt man sich bitzli verarscht vor – sekretiert.
Den Satz hab ich heute schon wieder gehört: «Wir sind ja noch jung.» Meine Antwort darauf ist noch nicht spruchreif, suche noch die richtigen Worte. Ich bin nicht mehr jung, fühle mich nicht mehr jung und möchte auch nicht mehr jung sein. Ich möchte das sein, was ich bin, so alt sein, wie ich bin. Mich so geben, wie ich gerne sein will, wie ich mich wohlfühle. Romana Ganzoni hat es in einem Blog-Beitrag für die Engadiner Post wunderbar ausgedrückt. «Sie sagen, du bist doch nicht älter, fünfzig ist das neue dreissig. Du bist noch jung. Danke, das ist nett, aber gelogen. Ich bin älter, will es sein, ist übrigens ein Privileg, nicht allen wird es zuteil.» Weiter unten geht es um die Bezeichnung «Junggebliebene». Dazu schreibt sie: «Bin ich ein Elektrovelo? Keinen Saft mehr, aber trotzdem die Trainierten abhängen? Nö. Keine Tricks. Pubertät, Adoleszenz und Midlife-Crisis liegen hinter mir. Das heisst ja nicht, dass mir nichts mehr einfällt.» Das gefällt mir, ausgesprochen gut, Ganoni schreibt mir aus dem Herzen.
«Wenn ich jetzt sterben würde, was wäre meine Bilanz?» Das ist eine schwierige Frage und sie ist gemein. Über eine Antwort nachzudenken, bringt Versäumnisse hervor, verblasste Träume, verpasste Abzweigungen. Man sollte sich die Frage vielleicht nicht zu spät stellen, sie könnte ja noch ein Beben auslösen. Es gibt den schönen Satz: «Il vaut mieux avoir des remords que des regrets.» Ich kenne ihn vom französischen Sänger Patrick Bruel, im Original ist er glaubs von Oscar Wilde.
Wieder etwas Wunderbares gelernt. In Spanien kann man für «Ich liebe dich» (te quiero, te amo) auch: «Te he hecho croquetas» (Ich habe dir Kroketten gemacht) sagen. Und wer in Spanien schon mal «croquetas» gegessen hat, beispielsweise mit Serrano-Schinken drin, der weiss, wie unfassbar gut die schmecken und kann leicht ableiten, wie schön dieser Satz gemeint ist.
Sie wanken durch die Innenstadt und erlösen sich in Hauseingängen, vor Geschäftstüren, an den Mauern, die schon so viel gesehen haben. Sie urinieren wie streunende Hunde. Es stinkt bedenklich und ich weiss nicht, ob ich sie bemitleiden, beschimpfen oder einfach ignorieren soll. Ob sie ihr Glück jetzt gefunden oder es im Rausch noch mehr verloren haben?
Arme Mühle, die sich immer drehen und drehen muss – stets im Kreis, als gäbe es kein Danach. Man muss ihr Leben einhauchen.
J hat sich heute lustig gemacht über meinen Eintrag vom 16. Januar. Da sammelte ich schöne Worte. «Mundwinkel» war eines davon. Das findet J nun sehr witzig. Ich bleibe aber dabei. «Mundwinkel» ist ein schönes Wort. Es ist übrigens wissenschaftlich erwiesen, dass wenn wir die Mundwinkel absichtlich nach oben ziehen und diese für 90 Sekunden so halten, der Körper ebenso das Glückshormon Serotonin ausschüttet wie bei einem richtigen Lachen.
GPT-3 ist die modernste künstliche Intelligenz im Bereich Spracherkennung, ein Sprachmodell, das menschenähnlichen Text produzieren kann. Diese KI kann Mensch Fragen stellen. Wie beispielsweise diese: Wohin geht es als Nächstes? Die Antwort von GPT-3 ist gruselig, überraschend, gut: «Zum Ende der Gemeinheit. Zum Ende der Hoffnungslosigkeit. Zum Ende der Einsamkeit. Zum Ende des Mangels. Zum Ende der Angst. Zum Ende des Hasses. Zum Ende der Schuld. Zum Ende.» (Aus: Iain S. Thomas, Jasmine Wang, GPT-3: Was euch zu Menschen macht – Antworten einer künstlichen Intelligenz auf die grossen Fragen des Lebens.)
Heute ist Weltfrauentag – meine Lieblingsfarbe hat wieder Konjunktur. «Violett», ich schlage nach: «Aus der weitsichtigen Ausgeglichenheit von Blau in Kombination mit der Kraft von Rot steht
Violett auch für Kraft, ausserdem für Übersinnlichkeit – das sinnliche Rot und das geistige Blau machen es diffus und leicht.» Ich bin da pragmatischer. Violett steht für schöne
Erinnerungen an Florenz in den Achtzigern und ist in Kombination mit Weiss unschlagbar schön.
«I primi pendolari la mattina. Quest'anno è forte la tua Fiorentina. La colazione con i bomboloni. E guai a chi parla male di Antognoni...»
Welch ein Tag! Die Arbeitsstunden vergehen mit Sitzungen – immer mehr, mehr, mehr. Sie halten mich von der Arbeit ab. Mitarbeitende sollen 15 Prozent ihrer Arbeitszeit in Sitzungen verbringen. Beim oberen Management sollen es gar weit über 50 Prozent sein. Ich sitze, also bin ich. Kürzlich habe ich gelesen, dass man in Japan für die «Meeting Rooms» jetzt bezahlen müsse. Eine geniale Idee, die Sitzungszeit sei merklich zurückgegangen. 100 Dollar pro Stunde, da wird man automatisch effizient.
Bei all dem Hässlichen, das uns täglich begegnet, darf man das Schöne nicht vergessen. Ich sammle heute darum einen Strauss schöner Worte: Schneeflocke, zweisam, Schmetterling, Luftschloss, lichtdurchflutet, Musse, anschmiegsam, Sinnlichkeit, saumselig, zaubervoll, gedankenschön, Mundwinkel, Fernweh, Lieblingsmensch, wohlwollend, Fühlingserwachen, sehnsüchtig, Moos, mäandern, Pusteblume, Schmollmund, Schlafittchen, Traumfänger, Mangroven, Leichtigkeit, zeitvergessen, Lappalie, Fisimatenten …