Olympia 2021 in Tokio hat ein neues Motto: Statt «höher, schneller, weiter», heisst es nun «sicher, geschützt, vereinfacht». Zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, dass dieses Virus doch etwas ändert in unseren Köpfen und in unserem Handeln. Dass es uns in diesem sinnlosen Streben nach Gigantismus und Maximierung, nach Immermehr und Immerschneller, Immergrösser ein alternatives Modell aufzwingt, das uns wieder atmen lässt, dass uns Luft zum leben gibt, auch wenn wir Masken tragen.
Man denkt, man hätte es hinter sich. All die Ängste, die man als Eltern aushalten muss, weil man sich Sorgen macht, dass den Kindern etwas zustossen könnte. Ich erinnere mich an den Abend, als L zum ersten Mal in die Stadt in den Ausgang ging, ich sass auf Nadeln, wäre am liebsten hinterhergeschlichen, schaute stundenlang das telefon an. Oder als sie zum ersten Mal allein ins Flugzeug stieg und nach Australien reiste. Ich verfolgte den Flug online auf dem Radar. Als das Programm abstürzte und stehen blieb, blieb auch das Flugzeugsymbol stehen. Ein schrecklicher Moment. Man denkt also, dass man nach all den Jahren ruhig geworden ist, abgeklärt, rational, gelassen, dass man das alles durch hat und Erfahrung besitzt, doch dann kommt der Enkel auf die Welt und man spürt das gleiche Kribbeln wieder und alles beginnt von vorne. Nur dass man weiter weg ist, nicht alles erfährt und mitbekommt. Und beim Blick in den Spiegel entdeckt man, dass sich die Sorgenfalte auf der Stirn wieder bemerkbar macht.
Ich staune über das kleine Geschöpf, das immer grösser wird. Die ersten wichtigen Entwicklungen haben wir verpasst. Wir durften ihn als Grosseltern nicht besuchen, sahen ihn und L nur via Zoom im Computer. Aber immerhin ist die Technik heute soweit, dass sowas möglich ist. Aber es war schwierig, weil wir M nicht berühren konnten, nicht riechen, nicht küssen, nicht streicheln, nicht wickeln. Hoffentlich kommt diese Zeit der Entfernung nicht wieder. Ehepartner, die ihre Lieben nicht im Spital besuchen dürfen, die unten auf der Strasse winken, während der Partner oben aus dem geschlossenen Fenster schaut. Verwandte, die ihre Eltern oder Grosseltern nicht im Heim besuchen dürfen. Alte Menschen, die elend vereinsamen und den Lebenswillen verlieren. Dieses Virus ist sozial unverträglich. Ich nehme M in den Arm und knuddle ihn, küsse ihn, rieche an ihm, streichle ihn, kitzle ihn. Er will runter. Stillhalten ist langweilig.
M steht stellt sich überall, wo er sich mit den Händen festhalten kann, mit einem eleganten Ruck auf seine Beine. Und wenn er das, was er festhält, über den Boden schieben kann, dann läuft er ein paar Meter und erzählt dabei ganze Geschichten in seiner Blabbelsprache. Er ist stolz auf seine Leistung, seine Fortschritte und will dafür gelobt werden. Er lächelt die Menschen in der Regel an, egal, ob er sie kennt oder nicht. Wer ein Lächeln gibt, bekommt eines zurück. Nur bei der Frau in der Apotheke, da musste er weinen. Die Verkäuferin trug eine Maske. M hat sofort verstanden, dass das kein Spiel ist.
Besuch bei G. Sie will mir Kleider geben von E. Ich solle sie tragen, sie seien fast wie neu. Sie würden mir schon passen. Und Schuhe stünden auch noch herum. Und all die CDs und die Bücher und die Kabel und die Platten. Ich will nicht, ich kann nicht. Ich lehne ab, ernte leises Unverständis. Und warum ich mir jetzt einen Bart wachsen lasse? Ich möchte alte Fotoalben anschauen. Die aus meiner Kindheit. G hat keine mehr zur Hand. E habe alle Fotos digitalisiert und im Computer mit Photoshop bearbeitet und schön säuberlich abgelegt und angeschrieben. Das Passwort für den Computer kennt G nicht. Wir essen Brötchen und trinken Kaffee dazu. Es regnet. Der Spaziergang fällt ins Wasser.
Freunde schicken Selfie-Bilder aus dem Malle-Urlaub. Strandferien mit Maske, man kann sich Urlaub schöner vorstellen. Schon wieder wurden wir mit unfassbaren Fotos überflutet. Sauftourismus auf dem Ballermann. Es wurde offenbar exzessiv und ohne Einhaltung des Mindestabstands und der Maskenregelung gefeiert. Jetzt erstrecht. «Wir lassen uns die Party nicht verbieten» singen die Ignoranten, die sich wohl als Rebellen fühlen. Nun zog die spanische Behörde die Reissleine, der Ballermann ist wieder zu, die Maskenpflicht wieder verschärft und die Angst vor der zweiten Welle wieder gross. Auch hier in der Schweiz, denn die Mallorca-Urlauber kommen bald zurück. Das Reisefieber ist trotzdem nicht zu lindern. Freunde auf Kreta schreiben: super hier, wir merken nichts. Freunde aus Apulien schicken Bilder und Filme: alles grandios und normal wie immer. Freunde von nebenan sagen: nichts wie weg ans Meer mit Kind und Kegel. Ich laufe zwischen den Reben zum Fluss hinunter, netze mich an und tauche in den Rhein. Kopfkühlend wie immer.
S feiert runden Geburtstag, Lebensabschnittsneuanfang. Tag der offenen Tür. Die geplante Grossparty wurde von der Vernunft abgesagt, aber die Freunde kommen trotzdem, nicht alle, aber die besten und treusten. Sie verteilen sich in der Zeitspanne zwischen Mittag und spätem Abend. Ich mache insgesamt 16 Pizze auf dem Stein draussen im Grill. Das gibt zu tun und die Vorbereitung ein Durcheinander in der Küche. Viele Sonderwünsche, also mache ich vegane Eckchen, vegetarische Eckchen, glutenfreie Eckchen oder Ecken mit diesem, ohne das, dafür mit jenem. Die Abendsonne hält sich tapfer, danach wird es kühler. Die Stimmung ist gelöst, auch das Virus ein grosses Thema, die Begrüssungs- und Abschiedsgesten sind ein Problem. Jeder handhabt es anders. Manche forsch wie stets, andere verlegen verhalten, manche peinlich ungelenk. Ich halte freundlich Abstand. Es tut gut, Freunde zu haben. Wir sitzen alle im selben Boot.
Im Friseursalon bedienen sie immer noch mit Maske. Die Kunden tragen auch Masken. Handschuhe sind freiwillig. S meint, sie würde wohl nie mehr ohne Maske coiffeurlen. Damit müsse sie sich abfinden. S bekommt Ausschläge vom Stoff, hat sich darum eine andere Maske bestellt, die ist weicher, dafür auch dichter, macht das Atmen schwieriger. Den ganzen Tag stehen, ist schon mühsam, jetzt auch noch das erschwerte Atmen. Auf dem übernächsten Stuhl bekommt eine Frau eine Dauerwelle. Sie hat Lockenwickler im Haar. Sei wieder trendig, sagt man. Ich lese im aufliegenden Heft von der zweiten Welle. Wie irreführend dieser Begriff doch ist, schiesst es mir durch den Kopf. Er impliziert, dass wir die erste Welle abgeschlossen haben, und dass die zweite womöglich schlimmer wird. Wahrscheinlicher ist aber doch, dass das Virus hier ist und nicht mehr weggehen wird. Dass wir es nicht austreiben können. Die rettende Impfung nur eine Illusion ist, eine Hoffnung, an die wir uns klammern. Wir werden damit leben müssen. Wir alle haben es gewissermassen mit einer Dauerwelle zu tun.
«Ich dachte, das wäre mein letztes Album bevor ich sterbe. Und ich müsste alles zeigen, was in mir steckt, was ich wert bin.» Diesen Satz sagt Marianne Faithfull im Dok-Film «Der raue Glanz der Seele» der Schauspielerin Sandra Bonnaire, der auf Youtube zu finden ist. Sie sagt es direkt in die Kamera, es ist der Höhepunkt des Films. Faithfull, die Muse der Sechziger, inzwischen 73-jährig, meint damit das Album «Broken English» von 1979, mit dem sie ihr Comeback gab nach tiefem Fall, nach Drogensucht und Absturz in die Obdachlosigkeit. Zum Glück irrte sie sich damals. Faithfull hat überlebt, seither weitere dreizehn Alben eingespielt, nicht immer nüchtern, und geglänzt in starken Kinorollen. Heiser, kraftvoll, melancholisch, ausdruckstark lebt sie noch immer, hat die Drogen, den Krebs und im April dieses Jahres auch das Coronavirus besiegt. 22 Tage lag sie in London im Spital mit schweren Symptomen. Und ich folge ihr, wenn sie der Zigeunerfeenkönigin durch England folgt. Nick Cave stimmt auch ein: berührend, zart und zerbrechlich. Und wir existieren, existieren, «in the twilight in-between».
Es ist auffallend, dass immer mehr Filme in den Mediatheken von Arte, ARD und in der Schweiz nicht zu sehen sind. Da freut man sich, dass eine neue nordländische Krimiserie aufgeschaltet wird, sie verspricht Thrill, klickt erwartungsfroh drauf, das Rädchen dreht, der Stream startet nicht, es passiert gar nichts. «Aus rechtlichen Gründen...» Fast in Spielfilmlänge drückt man also Link um Link und wenn man endlichglaubt, fündig geworden zu sein, und der Film startet, weiss man nach drei Sequenzen: das ist nichts und weiter gehts, den nächsten Link, das nächste Rädchen, die nächste Mediathek. Kein Film, kein Thrill. Alles zum Schutz der teuren Filmindustrie, die sich nur dank Linzenzen refinanzieren lässt. Sollen sie billiger produzieren. Wie es Fassbinder gemacht hat früher oder die Regisseure der Nouvelle Vague. Nicht mal deren Filme starten noch. Man muss sie in der Erinnerung abrufen. Jeanne Moreau, wie sie mit Oskar Werner und Henri Serre vor Glück tanzend als Catherine, Jules und Jim über die Brücke springen. Dieses Geoblocking macht mich wahnsinnig. Ich pack mir ein Buch, schlag es auf und beginne zu lesen. Läuft!
Nach drei Tagen Homeoffice ist heute Hausarbeit angesagt. Bisschen dieses, bisschen jenes. Die steigenden Coronazahlen stets im Blick. Die korrelieren übrigens mit den Klickzahlen der Online-User. Man spürt förmlich die wiedergekehrte Unruhe bei den Menschen. Also doch Maskenpflicht im ÖV, vernünftig. Ich vermute bald kommt die allgemeine Maskenpflicht in der Schweiz. In der Schule mussten wir damals ein Theaterstück von Handke lesen. Es hiess «Die Unvernünftigen sterben aus». Ich erinnere mich an den Namen des Protagonisten. Er hiess Hermann Quitt. Darum leicht zu merken, weil er sich am Ende umbringt und eine Welt verlässt, die vom Kapitalismus, der Gier und Korruption aufgefressen wird. Das Stück handelt von Menschen, die der Wirklichkeit so weit entrückt sind, dass sie brandgefährlich werden.
Im Schatten von Corona geht einiges ab auf der Welt. China knüppelt in Hongkong die Freiheitsliebenden nieder und sagt, das seien «innere Angelegenheiten», verbittet sich jede Kritik von Aussen, die bis auf ein paar Scheingefechte sowieso ausbleibt, weil alle eigene Probleme haben, Virusprobleme. Bolsonaro brennt in Brasilien weiter den Regenwald ab, damit er und seine Komplizen ihn ausbeuten können, koste es den Rest der Welt, was es wolle. Und Putin? Er trickst sich im Demokratie-Mäntelchen zum Zar und pfeift auf die Verfassung. Die kann man ja ändern wie man will. Jetzt darf er bis 2036 regieren. Das heisst Macht für ewig. Und wenn er mit 83 dann immer noch nicht satt ist, wird er die Verfassung halt nochmal ändern. Fette Jahre für ihn und seine Kopfnicker und Mitwisser bis zum Tod auf Kosten der Ohnmächtigen. Noch müssen sich auch die Mächtigen und Gierigen dem Tod ergeben. Aber wer weiss, was sie sich noch einfallen lassen, um ewig zu leben, ewig zu herrschen, ewig zu profitieren. Dürrenmatt hätte seine Freude an diesem grotesken Welttheater. Sein Bühnenbild wäre ein Labyrinth. Seine Darsteller wären Menschen, die eingeschlossen sind in einer chaotischen Welt, die vom Absurden regiert wird.
Juli. Echt schon Juli. Eigentlich wäre ich diesen Monat mit dem Zug nach Wien gereist in meine Lieblingsstadt. Doch das geht nicht, Reise abgesagt, Gesundheit geht vor. Also muss ich sie mir vorstellen. Die Innenstadt, dieses lebendige Museum. Ich liebe die Kunst, die Literatur, die berührbare Geschichte. Die Kaffeehäuser, wo dich schlecht gelaunte ältere Männer nach deinen Bestellungen fragen – «bedienen» wäre hier der völlig falsche Ausdruck. Die stylisch-coole Wohnzimmer-Atmospähre im Bücherkaffee «phil». Ich liebe die Beisl-Kultur, die Knödel und die Nockerl. Ich liebe das Neubau-Quartier, das Volkstheater, die freundlichen Menschen und die Grantler, den Schmäh und die Sprache. Mein Lieblingswort ist «Baba», dieser salopp-familiäre Abschiedsgruss zwischen näher Bekannten – zwischen Liebenden, Freunden und Verwandten.
E ist jetzt verewigt. Eine Wand, die aus mehreren Metallstäben zusammengesetzt ist, trennt die Wiese der unbekannten Gräber vom unteren Teil des Friedhofs. Im Metall sind Namen eingraviert. Der
Name von E ist seit heute auch zu lesen. Einer unter vielen. James Joyce könnte es sehen von seinem Ehrengrab aus, das sich bloss ein paar Meter weiter oben befindet. Aber die Bronzestatue des Amerikaners Milton Hebald schaut zur Seite. Joyce denkt offensichtlich nach. Vielleicht tauscht er sich in
Gedanken mit Canetti aus, der ganz in der Nähe liegt, oder er flirtet mit Therese Ghiese, die Mutter Courage. So richtig zur Ruhe kommt hier oben keiner. Es ist ein Geläuf. Touristen aus
aller Welt statten James und seiner Nora einen Besuch ab. Professoren kommen mit ihren Studenten, Groupies belagern die Grabstätte, manche von ihnen singen die irische Hymne und lassen
Whiskeyflaschen kreisen. Ich vermute, es gefällt E, dass hier ganz schön was los ist. Totenstille hätte er nicht gewollt.
Neue Woche, neue Perspektiven: Der Juli winkt, der Monat der schönen Farben, wo sich Kaulquappen in Frösche verwandeln, die darauf hoffen, Prinz zu werden. Montag ist mein Einkaufstag, Meine Route im Laden hat sich längst verfestigt. Jeder Schritt sitzt. Zuerst zum Brot, dann zu den Früchten, dann zum Gemüse, dann zu den Eiern... Ich sehe erstmal seit längerem wieder Menschen mit Masken; in der Mehrzahl ältere Frauen. Ich komme zur Fleischauslage. Es zieht mir den Magen zusammen, ich schaue nicht hin, gehe schnell weiter zu den Teigwaren. Seit ich vor wenigen Tagen die Bilder vom Hundefestival in China und die vom Corona-Skandal in der Tönnies-Fabrik, dem grössten Schlacht- und Zerlegebetrieb Europas, gesehen habe, ist mir die Lust am Fleisch vergangen. Nicht so sehr mein Geist rebelliert, es ist mein Körper, der widerwilligt. Aber beides hängt wohl zusammen. Andere sind da weniger empfindlich. Die Schweizer stürmen weiter die Einkaufszentren im deutschen Grenzgebiet, lese ich, auf der Suche nach Fleischschnäppchen von Tönnies und Konsorten. Bei Aldi gibts die XXL-800-Gramm-Packung Schweineschnitzel für 4,99 Euro. 800 Gramm Minutensteaks von Lidl kosten 5,38. Lohnt sich, so ein Ausflug ins Jagdgebiet.
Das Wort Dystopie brachte ich bisher vorallem Hollywood-Kino in Verbindung. Filme, die eine Welt nach der Katastrophe zeigen; einen Atomkrieg, weil ein irrer Staatsboss auf den roten Knopf gedrückt hat, eine Umweltkatastrophe, eine Pandemie, die Landung von Ausserirdischen oder Ähnliches. Die Welt liegt jedenfalls entweder in Trümmern oder befindet sich in schlechten Händen. Das ist zwar furchteinflössend, aber eben nur Kino. «Dys» für übel, «topos» für Ort: der «üble Ort», eine düstere Zukunftsvision. In den letzten Wochen bin ich diesem Wort so oft begegnet, dass ich es genauer betrachten muss. Wie stark überlappen Kinovisionen mit der heutigen Wirklichkeit? Gerade packt mich die Vorstellung, wir seien in den letzten Wochen von den Zuschauerrängen der Kinos in die Leinwand katapultiert worden, mitten ins Geschehen hinein. B sagt, ich solle mich nicht verrückt machen lassen, das Positive sehen, das Alltagsschöne nicht vergessen. Also setze ich mich wieder auf den blau gepolsterten Sitz im Parkett. Der Abstand zum Vordersitz ist verdammt eng, ein bisschen mehr Beinfreiheit wäre angenehm. Das Licht geht aus, der Film an. Alles wird gut.
Ich glaubte zuerst an ein Foto aus dem Archiv. Doch es war datiert auf den 25. Juni 2020. Also eine Fotomontage? Leider nein. Das Foto ist echt, es zeigt den mit Menschen überfüllten Bournemouth Strand in Südengland. Eine halbe Million Körper, dicht gedrängt, ohne Masken, ausgelassen, trotzig, verantwortungslos. Am Donnerstagmorgen wurden 33 Tonnen Abfall weggeräumt, weil schon am Mittwoch der Strand menschengeflutet war. Am Freitag mussten wieder 22 Tonnen Abfall entsorgt werden. Müll, der achtlos auf dem Boden hinterlassen wurde. Corona als Chance zum Undenken, unser Verhalten zu hinterfragen, unsere Völlerei zu mässigen, unsere Verantwortung zu stärken? Träum weiter, wer das glaubt. Corona scheint eine ganz andere Wirkung zu haben. Das Virus nistet sich nicht nur in unseren Lungen, sondern vorallem in unseren Köpfen ein, treibt von dort sein Unwesen und uns in die Raserei, weil der Wunsch und das Ziel, dieses Virus wieder loszuwerden, immer grösser und beherrschender wird.
Heute zum ersten Mal seit langen Wochen wieder ins Büro gefahren. Früh morgens total aus dem Konzept gekommen. Die Abläufe plötzlich wieder ganz anders. Die Vorbereitungszeit wieder viel kürzer. Ich merke, ich bin nicht gut vorbereitet. Wo ist die Kleidung, wo das Essen, wo die Tasche? Die Zeit drängt. Der Verkehr auf der A1 ist dicht, aber er stockt noch nicht. Bitte benützen Sie die Treppe steht an allen Lift-Türen im Pressehaus. Nur eine Person darf den Lift benutzen. Oben im zweiten Stock noch Ruhe, aber die Luft ist spürbar dicker, der Kaffee bitterer, das Licht greller. R macht seine gewohnten Sprüche vor der Kamera, stets gut drauf, jeden Tag. Immer reger wird der Betrieb, eine Kommen und Gehen. Die Kommunikation untereinander ist wegen den Abstandsregeln fast schwieriger, als von Homeoffice zu Homeoffice. Soll man sie direkt führen oder doch via Computer? Nach Dienstschluss habe ich Kopfschmerzen wegen Frischluftmangel. Und einen dicken Hals wegen kilometerlangem Stau. Was mache ich hier gefangen zwischen Ford und Audi? Ich drehe den Radio lauter. Tanya Lieske präsentiert im Deutschlandfunk den Büchermarkt. Immerhin: diese Namenskombination ringt mir ein Lächeln ab. Es geht um eine fiktive Band namens Daisy Jones & the Six, um Sex, Drugs and Rock'n'Roll und um Fleetwood Mac. Ich sehe Stevie Nicks vor mir, ihre blonde lange Mähne, ihr extravaganter Style, höre ihre verführerische Stimme. In der Schule in den späten Siebzigern waren wir Jungs alle in sie vernarrt. Kann mich an keine Ausnahme erinnern: «If I could Baby, I'd give you my world. Open up. Everything's waiting for you.»
Weitere Lockerungen, die in der Schweiz ab heute gelten: Grossveranstaltungen bis 1000 Personen sind wieder erlaubt, die Polizeistunde fällt weg, der Mindestabstand wird auf 1,5 Meter reduziert, für Kundgebungen gelten keine Obergrenzen mehr, die Home-Office-Empfehlung ist Vergangenheit. Fachleute sind beunruhigt und warnen, dass die Schweiz nicht bereit sei für diese Lockerungen. Die WHO meldet Rekord an weltweiten Neuinfektionen. In Deutschland müssen wieder Schulen geschlossen werden. In einer Fleischfabrik in Nordrhein-Westfalen gibt es über 1300 positive Fälle. Die Schlachthofarbeiter fliehen in ihre Heimatländer in Osteuropa, nehmen das Virus mit. Lockdown wird wieder zum Thema. In Holland gibt es 400 Verhaftungen nach Massenprotesten gegen Corona-Auflagen. Trump lobt seinen «phänomenalen Job» im Umgang mit der Coronavirus-Pandemie und macht Scherze über die Tests. In den USA gibt es über 120000 Corona-Tote... Ich kann keine weiteren Schlagzeilen und Texte mehr zu Corona lesen, es gäbe noch viele weitere, die richtig Angst machen. Mir dreht jetzt der Kopf. Es ist zum Verrücktwerden, je mehr man liest, umso schlimmer. Ich muss mich ablenken. Draussen steigen die Temperaturen. Diese Woche ist Traumwetter angesagt und bis zu dreissig Grad. Der Sommer lockt mit seinen Reizen und Verheissungen. Ich werde zur Abkühlung in den Rhein springen. An derselben Stelle wie letzten Sommer. Und wie vorletzten. Und die Jahre davor. Und dabei versuchen den Boden zu berühren. So wie immer. Ganz normal.
Sitze im Zug von Zürich nach Stuttgart. Kurz vor Schaffhausen tut sich rechts ein prächtiges Bild auf. Passagiere stehen auf, zücken ihr Smartphone und halten diesen eindrücklichen Blick auf den Rheinfall fest. Zwei junge Frauen kreischen verstohlen. Der Zugführer macht eine Durchsage, weist die Weiterreisenden darauf hin, dass wir uns der Grenze nähern und in Deutschland im Zug Maskenpflicht sei. Der Wagen, in dem ich sitze und mich jetzt für den Ausstieg bereit mache, ist wenig mehr als halbvoll, niemand trägt Maske, soweit ich das überblicken kann. Mir schiesst der Gedanke durch den Kopf, dass es völlig absurd ist, im gleichen Zugwagen mit den gleichen Passagieren verschiedene Regeln zu handhaben. Instinktiv halte ich die Luft an, so lange, bis sich am Bahnhof in Schaffhausen die Türe öffnet und ich frische Luft atmen kann.
Miquel Fluxà heisst der Mann. Er ist 81 Jahre alt und Präsident und Besitzer der Iberostar-Hotelkette, einem Weltunternehmen mit Hauptsitz in
Palma. Er sagt, dass Mallorca bis vor ein paar Jahren eine bitterarme Insel gewesen sei, auf der es keine Toiletten gegeben habe, die Menschen hätten ihre Notdurft in den Gärten verrichten
müssen. Erst der Tourismus habe die Insel wohlhabend gemacht. Und um diesen Wohlstand wolle man jetzt kämpfen, alles dafür tun, ihn zu erhalten. Jetzt weiss ich nicht, ob ich lachen
soll.
Auf SWR3, meinem Lieblingsradiosender, höre ich mir einen Bericht aus Mallorca an. Da werden heute im Rahmen eines Pilotprojekts tausende deutsche Touristen erwartet. Man will ermitteln, ob die Corona-Schutzmassnahmen funktionieren und alle Gäste wieder gesund abreisen. Die Stimme steht am Strand in Palma, wie sie sagt, der so traumhaft schön und sauber sei wie nie und das Wasser helbblau und glasklar. Die armen Einheimischen. Die müssen im schmerzhaften Dilemma sein. Sie brauchen diese Touristen, welche ihnen die Arbeitsplätze sichern, aber ob sie sich wirklich freuen, dass sie jetzt wieder kommen und am Strand die Sau rauslassen? Die Flieger, die aus Düsseldorf und Frankfurt Richtung Balearen abheben, sind voll besetzt, bis auf den letzten Platz .
Die Grenzen sind offen. Ich fahre zum ersten Mal seit Monaten wieder über Deutschland in den Aargau. In Jestetten dürfen die Kinder auch wieder zur Schule. Sie tragen alle Masken, halten Abstand. Die vier Erwachsenen auf dem Pausenplatz, auch sie mit Masken, passen offenbar auf, dass die Vorschriften eingehalten werden. Vierzig Minuten und vierzig Kilometer später stehe ich an der Kreuzung in Baden, schaue links aus dem Seitenfenster auf den Pausenplatz vor dem Schulhaus Tannegg. Die Jungs tragen Hoodies und Pludertrainerhosen, sie stehen in Gruppen, klatschen sich ab: «Hey Bro», umarmen sich, zelebrieren Händeschüttelrituale. Ich weiss nicht mehr, ob es in der Schweiz noch verpflichtende Corona-Regeln gibt, oder bloss noch Empfehlungen, habe die Übersicht verloren, aber diese Momentaufnahme der totalen Sorglosigkeit und Verdrängung erstaunt und erschreckt mich.
Das Mail mit der Antwort ist da. Endlich Klarheit. Das Konzert von Patti Smith in Wien ist nicht abgesagt, bloss auf den 15. Juli 2021 verschoben. Die Tickets behalten ihre Gültigkeit. Ich schreibe ihr auf Instagram eine Nachricht, dass ich mich darüber freue und es kaum erwarten kann. Seit es Soziale Medien gibt, ist das ganz einfach. Wollte man früher den Stars eine Nachricht schicken, gab es dafür im TV eingeblendete Postfach-Adressen, die meist irgendwo in Deutschland waren; in Köln, München oder Berlin, egal, woher der Künstler oder die Künstlerin stammte. Da konnte man dann Postkarten hinschicken und bekam, wenn man Glück hatte, Wochen später eine Autogrammkarte oder eine Antwort zurück. Heute kann man das ganz schnell und unkompliziert direkt via Kommentarspalten auf den verschiedenen Plattformen tun. Die Chance, dass man eine Antwort bekommt, ist zwar noch kleiner als damals mit den Poskarten, die man an Postfächer schickte, dafür ist es viel wahrscheinlicher, dass die Nachricht tatsächlich bei der richtigen Person ankommt und auch gelesen wird.
«Je mehr die zeitlose Handlung zwischen extremer Realität und fieberhafter Halluzination im gleissenden Licht verschwimmt, desto tiefer schiebt sich der Text wie Eisschollen in das Lesehirn.» Das ist doch mal ein Klappentext, der gwundrig macht und unruhig. «Eis», der Roman von Anna Kavan aus dem Jahr 1967, gibt es jetzt erstmals auf Deutsch und liegt bei mir im Milchkasten. Ein Klassiker, der zur heutigen Zeit wie die Faust aufs Auge passe; so etwa wird er angekündigt. Ist auf Patti Smith's Best-of-Liste, also auch auf meiner und auf der von R. 182 Seiten kristalline Prosa, kleinst geschrieben, die ich gleich verschlingen werde. Anna Kavan, so belehrt mich Google, ist nicht der richtige Name der Autorin, die gebürtig Helen Emily Woods hiess. Vielmehr ist es der Name ihrer Hauptfigur aus dem Roman «Let me alone» (1930), deren Identität und Aussehen die Autorin danach übernahm. Im Alter von 67 Jahren starb Anna Kavan in ihrer Wohnung in London mit einer noch gefüllten Heroinspritze in der Hand.
Das Wetter ist garstig und grau, kann ja auch nicht jeden Tag gute Laune haben. Auch die Aussicht bleibt trübe, also das Beste draus machen. Gestern habe ich die Waschküche aufgeräumt. Da haben sich über die Jahre Dinge angesammelt, an die ich mich gar nicht mehr erinnern kann. So gestaubsaugt und entspinnt und entrümpelt ist der Raum plötzlich riesig, fast schon wohnlich. Heute habe ich mich um das Kellerabteil gekümmert, den Tiefkühler gereinigt, den Schrank auf den Kopf gestellt, den Vorratskasten auf Datum gebracht, den Boden geschruppt. Auch so bringt man freie Tage über die Zeit. Morgen kümmere ich mich um das Atelier, die grösste Herausforderung, die aber garantiert Farbe ins Grau bringt.
Ich habe G. immer dafür benieden, dass er seit Jahren jeweils drei seiner fünf Tage pro Woche von zu Hause aus arbeiten darf. Nun aber, da mich der Virus selber ins Homeoffice verbannt hat, weiss ich gar nicht so recht, was ich davon halten sollte. Meine Tage sind durchstrukturiert. Sie sehen fast alle gleich aus. Sogar die Gänge zum Kühlschrank und zur Kaffemaschine sind immer gleich terminiert. Beängstigend, so als wäre man selber eine Maschine. Diese Routinen haben sich mit der Zeit eingeschlichen und geben Halt, um in der luftlosen Eintönigkeit nicht umzukippen. Draussen jagen die Segler übermütig um die Mauern und wenn sie ihren Jungen Futter bringen, geht lautes Geschrei los in den Brutkästen, das auch die Raben anlockt, die bestimmt eifersüchtig sind, dass sie nicht so schön singen können wie die anderen Vögel. Im Homeoffice zu arbeiten erspart mir den täglichen Strassenverkehr und viel Ärger. Ich gewinne Lebenszeit. Denn 15 Minuten nach Feierabend, sitze ich bereits auf dem Bike, mache meine Runde, auch das ist zur Routine geworden, atme tief die frische Luft ein und fühle mich übermütig, losgelöst, luftig und frei, wie ein Mauersegler.
Das Gefühl beim «Lädele» ist anders geworden. Es macht keinen Spass mehr, es ist bedeutungslos. Ohne Lust schaue ich mir die T-Shirts an der Stange an, taste ein paar mit den Fingern ab, teste den Stoff, wende mich ab. Ich will nichts kaufen, ich brauche nichts. Die Verkäuferin kommt mir zu nahe, redet auf mich ein, sagt dies und das, ich weiche zurück, sie folgt mir nach. Es gäbe bald ein ganz neues Herbst-Sortiment, verrät sie. Ich sage danke, und dass ich dann wieder reinschauen würde. Nichts wie raus und in die Natur, den Sommer geniessen.
Wo ist das Virus geblieben?, lese ich. Antworten gibt es darauf keine, aber Meinungen. Es wird keine zweite Welle geben. Die zweite Welle wird viele Tote fordern. Das Virus ist da. Das Virus ist weg. Die Experten rätseln offenbar auch. Niemand weiss etwas verlässliches. Immer weniger Menschen, so scheint es, wollen überhaupt etwas wissen. Falls die zweite Welle kommen sollte, werden sie nicht mehr brav tun, was die Regierungen anordnen, und die Wirtschaft auch nicht. Hunderte Besucher am Rheinfall, ein Gedränge, dutzende Sprachen, keine Masken, es wird Normalfall gespielt. Ich eile nach Hause, bloss raus aus der Masse. Im TV spricht Egomann über die Ausschreitungen in den US-Städten. Er hält den Kopf schräg und überzeichnet jedes Wort mit den Lippen und der Zunge: «thaaank youuu», eine Groteske. Man müsste sich schlapplachen, wüsste man nicht, dass er den Finger am Abzug hat. Es bleibt das Entsetzen über diesen unfassbaren Mord, der die Ausschreitungen auslöste, und die Befürchtung, dass der weisse Killer-Cop sich dafür nicht ernsthaft verantworten muss. Kein Wort des Bedauerns. Amerika steht in Flammen. Brasiliens Urwald auch. In Datteln im Ruhrgebiet geht ein neues Steinkohlekraftwerk ans Netz. Die Welt wankt. TV aus.
Heute wieder vermehrt Flugzeuge am Himmel gehört und beobachtet. Der
Blick auf flightradar.live bestätigt und überflutet meinen Eindruck: Der Himmel über Corona ist bereits wieder überfüllt mit gelben Flugzeugsymbölchen. Erschreckend und beängstigend dann abends
der ARD-Bericht darüber, wie es
in den Flugzeugen aussieht – wie da Hygiene- und Abstandsgebot umgesetzt werden oder eben nicht. Denn längst nicht alle Insassen tragen Gesichtsmasken und kaum ein Sitzplatz bleibt unbesetzt. Das
gewohnte Gedränge, Körper an Körper. Die Maschinen starten im Minutentakt. Die Aufholjagd hat begonnen.
Interview mit Patti Smith im ZEITmagazin. Sie ist toll, diese Frau. Und ich lerne: 2020 ist im chinesischen Horoskop das Jahr der Ratte. Patti sagt dazu: «Das hat eine doppelte Bedeutung. Einerseits verbindet man in unserer Kultur Ratten mit Plagen, das ist die negative Seite. Auf der anderen Seite sind Ratten Überlebenskünstler. 2020 ist das Jahr der Überlebenskünstler.» Es sei jetzt der richtige Zeitpunkt, um über ein paar Fragen nachzudenken: Wie können wir unsere Welt verbessern? Wie können wir uns als Menschen besser verhalten? Wie kann es uns gelingen, die Welt weniger zu verschmutzen, so wie es teilweise gerade gezwungenermassen passiert? Wie können wir alle mal runterkommen? Was wäre, wenn wir immer für zwei Tage in der Woche einen Shutdown machen?
Jimmy Cobb wird mir immer ein Begriff bleiben. Jedes Mal, wenn ich Stücke aus dem Album «Kind of Blue» höre, werde ich an ihn denken, weil mich sein grad-liniges, gefühlvolles, sensibles
Schlagzeug tief berührt. Ja, ich höre mir die Platte immer noch an. Dieser coole Ausbruchsversuch in musikalische Freiheiten auf engstem Raum: so schön, so schlicht, so luftig, so zärtlich und
konzentriert, so besonnen und hastlos. Jimmy Cobb hat die Bandmitglieder von damals bei weitem überlebt, nun ist er ihnen mit 91 gefolgt; verarmt aber nicht vergessen. Ich lege die Platte auf,
höre wie sich die Nadel auf das Vinyl setzt und schliesse die Augen. Die Musik klingt blauer und poetischer als je zuvor.
Heute will ich nicht mehr über den Mist sprechen, über den Tod und die unerwarteten Folgen. Vor ein paar Tagen war das noch ganz anders, da hatte ich dringenden Redebedarf. Jetzt löst sich alles in Luft auf. Gut so, abhaken tut gut, gibt Raum für Neues. Wie damals nach der letzten Uni-Prüfung, als der ganze verdammte Druck abfiel und wir in der Bar in der Stadt die Zeit vergassen, uns farbig unsere Geschichten erzählten, bis wir rotzevoll waren. Und am übernächsten Tag, wieder nüchtern und leicht wie Federn, nach vorne schauen und Pläne schmieden konnten. Diese Momente sind die schönsten, wenn man die weisse Leinwand vor sich hat, sich die Farben aussuchen kann, wenn nichts vorgezeichnet ist und alles möglich.
Bloss noch kurz zur Entsorgungsstelle fahren, sich den Flaschen und dem Karton entledigen, dann noch zur Migros hinauf, das Nötigste halt, keine grosse Sache, in spätestens dreissig Minuten bin bereit für die gepllante Biketour mit B. Bisschen die Sonne einatmen, die Natur geniessen, die Seele baumeln lassen. Und dann das: Eine riesige Autoschlange vor der Entsorgungsstelle. Dort, wo einst die Zielankunft der Tour-de-Suisse-Etappe war, wo die Fahrer mit Spitzengeschwindigkeiten Ellbogen an Ellbogen um die Plätze sausten, geht heute nichts mehr. Dreissig Minuten drängliches Stop'n'go bis zur Einfahrt. Dann endlich ein Parklplatz und rein ins hektische Gejufel. Flaschen klirren, Motoren dröhnen, Menschen fluchen. Abstandsgebot? Über den Haufen geworfen. Maskenschutz? Interessiert keinen mehr. Endlich draussen und rauf zum Einkaufszentrums: Eier, Früchte und Brot, mehr brauch ich nicht. Fünf Minuten? Es werden sechzig. Dasselbe Bild. Ein Menschenandrang wie nie zuvor. Endlich drin, will ich mir ein Brot greifen, werde unsanft von hinten zur Seite gedrückt. Will ich die Früchte abwägen, vertippe mich und werde unwirsch von hinten beschimpft, warum das so lange dauere. Will ich mir zehn frische Eier in die dafür vorgesehene Kartonform legen, es hat nur noch drei. Es ist ein Graus, ich muss hier raus. Das neue Leben nach dem Virusschock, die neue Bescheidenheit, die Rückeroberung der Langsamkeit, Besinnung und Einkehr? Alles Quatsch. Die Menschen sind entfesselt.
Feiertag und ein herrlicher Morgen. Ich kann den Verlockungen des Rheins, der mir goldglitzernd zuzwinkert und Handküsse zuwirft, nicht mehr widerstehen, schultere das Handtuch und schlendere
durch die Reben hinunter an die kleine Bucht. Das Wasser ist klar, niemand ist zu sehen. In den Scheiben der Häuser auf der anderen Seite spiegelt die Sonne. Ohne zu zögern springe ich hinein. Es
ist das erste Mal in diesem verrückten Jahr. Ich habe mich zuvor schlau gemacht.
Die Wassertemperatur beträgt 16,4 Grad. Das ist genug warm, dass man keinen Krampf in den Waden bekommt. Es ist wunderbar erfrischend, sich am frühen Morgen ins kalte Wasser zu wagen. Ich spüre
den Zug des Flusses, tauche zum Grund und wasche ihn einfach ab den ganzen verdammten Mist dieser Tage, soll er Richtung Rheinfall treiben und da in die Tiefe stürzen.
Heute vor dreissig Jahren blieb die Welt für einen Augenblick stehen. Viele hatten uns zuvor von ihren eigenen Erfahrungen erzählt und was auf uns zukommen wird, wenn das Kind auf die Welt kommt, wir konnten es uns ausmalen. Aber als es geschah, dieses Wunder, war ich nicht vorbereitet. Schutzlos befinde ich mich draussen auf dem Meer, eine Welle von Gefühlen steigt hoch, eine Mischung aus Angst, Staunen, Liebe, Ungläubigkeit, Hoffnung, Glück und Heftigkeit. Die Welle steigt und steigt und bricht am höchsten Punkt, um kurz danach unerwartet stehenzubleiben - wie ein Film, nach dem Drücken der Pausetaste, wie ein Augenblick, den man für immer eingefangen glaubt - um sich dann mit Ach und Getöse zu überschlagen und dich einzupacken, einzurollen und mitzunehmen auf eine lange Reise. Es tut nicht weh, die Welle ist zärtlich, sie rollt gewichtslos, berührt dich mit Samthandschuhen, die Knie werden weich, das Herz rast, die Gedanken stehen still, die Augen können sich nicht lösen von diesem kleinen, nackten, verklebten, wunderschönen Leben. Als mein Atem wieder einsetzte, fühlte ich mich federleicht und reif und stark und verantwortlich.
Heute ist ein Regentag und trotzdem scheint die Sonne. Man riecht die Natur intensiver, wenn es regnet. Die Blätter, die Früchte, die Blumen, die Wolken, den Himmel. Ich denke an den Sommer im
Süden, an abendlichen Regen nach einem Tag am Strand, wenn der Asphalt noch warm ist und die Leute auf die Strassen gehen und tanzen, weil sie verliebt sind und übermütig und verzaubert und
lebenshungrig. Die Band spielt auf der mit Marmorplatten ausgelegten Piazza Klassiker. Vor der Gelateria stehen die Kinder Schlange, können kaum stillhalten. Die Tische vor dem Caffè sind
überbesetzt, es wird gestikuliert und gelacht und telefoniert. Dass vereinzelt warme Regentropfen in die Gin-Gläser und Caffè-Tässchen klatschen, stört niemanden, auch nicht, dass die bunten
Hemden der Männer und die gepunkteten Kleidchen der Frauen nass werden. «E volavo, volavo felice più in alto del sole ed ancora più su...» Mir ist nach tanzen und
Meer.
Houellebecq liefert mir in der FAZ Antworten: «Wir werden nach dieser Ausgangssperre nicht in einer neuen Welt aufwachen. Es wird dieselbe sein, nur in etwas schlimmer.» Er beschreibt die Folgen
der technischen Entwicklung, die die physischen Kontakte zwischen Menschen immer mehr reduzieren. Die Epidemie des Coronavirus liefere jetzt dieser Tendenz eine wunderbare Daseinsberechtigung.
Diese Tendenz habe also schon vor dem Virus existiert, sie gebe sich nun aber mit einer neuen Gewissheit zu erkennen. Nun weiss ich, dass Houellebecq gern provoziert und zu viel von ihm kann ich
nicht lesen, sonst wirds mir elend. In «Die Möglichkeit einer Insel» ist die Erde nach Kriegen, Atom-explosionen und einer Verschiebung der Erdachse stark verändert. Die Meere sind verschwunden.
Liebe ist inexistent. Er beschreibt die Menschen der Zukunft, nennt sie «Neo-Menschen», die gentechnischt mutiert sind. Einzelwesen, die in Hochsicherheits-Hightechstationen leben, untereinander
nur im Internet kommunizieren, physische Kontakte gibt es keine. Alles wird überwacht von «Central City». Schwer verdaubarer Stoff, der nach Widerspruch schreit: Die Menschen sind soziale Wesen,
sie sind zur Liebe fähig, sie sehnen sich geradezu danach, und ohne körperliche Berührungen können sie nicht existieren. Werden sie dieser sozialen Kopmponente, den physischen Kontakten,
zunehmend beraubt, durch fremde Mächte oder Selbstverschulden, kommt es unweigerlich zur Revolte. Dann entwickelt der Selbsterhaltungstrieb grosse Kräfte, die durch die Sehnsucht nach dem
Urzustand, nach dem Kern des Wesens, nach Liebe und Berührungen, noch verstärkt werden und zur Rettung des Menschen führen.
Es wird nicht schlimmer, Monsieur Houellebecq, es wird besser. (Hoffentlich)
Im Caffè im Einkaufszentrum sitzt kein Mensch. Leere am Tag der Wieder-eröffnung. Obwohl alle geplangt haben auf diesen Moment. Früher war hier um diese Uhrzeit ein zelebriertes Zusammensitzen
mit vielstimmigem Palver. Es ist der Ort, wo sich die italienischen Rentner treffen und immer etwas zu erzählen haben. Grosse Geschichten, die meistens von früher und der Heimat handeln und oft
wiederholt werden, damit sie nicht vergessen gehen. Heute schlendert einzig der Capo zwischen den Tischen herum. Erwartungsvoll sieht er mich an,
als er mich mit der prallgefüllten Einkaufstüte in der Hand vor dem Eingang entdeckt. Und wendet sich offensichtlich enttäuscht ab, weil auch ich nicht eintrete, sondern vorbeigehe und das Freie
suche. Ob es überhaupt noch ein Zurück in die Normalität von früher geben wird? Vielleicht haben sich die Zeiten tatsächlich und definitiv geändert und wir wollen es bloss noch nicht wahrhaben?
Wem würden die Rentner dann ihre Geschichten erzählen? Sie wären verloren.
In Spanien verweigert ein Fussball-Profi den Wiedereinstieg ins Training. Da mache er nicht mit. Nicht bevor es ein Impfstoff gebe. Er habe riesige Angst, sich zu infizieren. Für ihn grenze dieser geplante Neustart an Wahnsinn, er komme viel zu früh und sei unverantwortbar. Die Gesundheit seiner Familie, die Gesundheit der Menschen sei ihm wichtiger. Er könne jetzt nicht an Fussball denken. Es gibt bestimmt viele Fussballer, die auch so denken – ein paar wenige, die sich auch so äussern – und fast keine, welche bereit sind, sich aufzulehnen und die möglichen Konsequenzen zu tragen. Sollte man ihn im Fussball wegen seiner Weigerung nicht mehr wollen, würde er halt etwas anderes machen, sagt der 26-jährige Familienvater, als Kellner arbeiten zum Beispiel.
Der Angriff erfolgte in Wildensbuch, einem friedlichen 130-Seelendorf im Zürcher Weinland. Im Augenwinkel sah ich auf dem Feldboden einen Schatten. Ich zuckte zusammen, blickte in Abwehrhaltung nach rechts und erkannte keinen Meter neben mir einen Raubvogel mit vorgestreckten Krallen. Bevor mir einfallen konnte, dass ich schon über Angriffen von Greifvögeln auf Menschen gelesen habe, hackte er sich direkt neben mir in den Boden. Ich hörte das Piepsen einer Maus, der wohl instinktiv bewusst wurde, dass ihr letztes Minütchen geschlagen hat. Es war ein Mäusebussard, welch wunderschönes Tier: Sein Angriff war lautlos, von hinten, im Sturzflug und offensichtlich völlig unbeeindruckt von meiner Nähe. Danach verzog er sich auf einen Baum fast ganz nach oben und ich fragte mich, wie er dort landen konnte mit der Beute in den Krallen. Hatte er sie bereits im Schnabel? Für uns Menschen nicht vorstellbar, dass diese Vögel eine Maus im Feld aus Höhen von über drei Kilometern erkennen. Ich trat ein bisschen heftiger in die Pedale und musste bergauf gegen den starken Wind ankämpfen, der an meinen Kräften zerrte, sie aber auch zusätzlich mobilisierte. Und ich dachte, dass dem Gegenwind trotzen vielleicht grad eine sehr gute Übung ist für das, was noch alles auf uns zukommt in nächster Zeit.
Ob ich denn keinen Zeitsprung machen wolle, wurde ich gefragt. Einen Zeitsprung ein paar Monate nach vorn, um zu wissen, wie es um uns steht, ob die Welt sich verändert hat, wohin die Reise geht. Auf keinen Fall, antwortete ich, bloss nicht. So eine Reise würde mir Angst machen. Lieber halte ich mich an die täglichen Rituale, die sich in den letzten Wochen wie von selber strukturiert haben, und will in Gedanken positiv bleiben. Dafür muss ich die Schlagzeilen relativieren. Zweite Welle. Dritte Welle. Finanzielle Schieflage. Wirtschaftskrise. Arbeitslosigkeit. Verarmung. Existenzbedrohung. Die Angst beginnt im Kopf und ist vielleicht ansteckender als das Virus selber. Experten raten, man solle das Positive im Blick behalten. In acht Tagen öffnen die Tennisklubs ihre Plätze: plopp... plopp... plopp... plopp... klingt wunderbar und erbaulich und auch ein bisschen nach alles... wird... wieder... gut...!
Mehr sehnen. Meer sehnen. Mehr sehen. Meer sehen. Das Meer ist heute fragil und prosaisch wie ein Rothko, ein grünaufblaues Pendeln zwischen Aufruhr und Ruhe, zwischen Untergang und Einkehr. Ein leichtes Schweben, ein ränder-verlierendes Ineinanderfliessen. Die Geometrie verliert seine Form und wird gerade noch eingefangen und festgehalten im prekären Gleichgewicht kurz vor dem Zusammenbruch. Ich sehe das Meer mit geschlossenen Augen. Wo fängt es an und wo hört es auf? Und wann hört es auf? Träte ich jetzt hinaus in diese wilde Weite, ich würde verschluckt wie ein Stein oder getragen wie ein König.
Mich dünkt, die Zielstrebigkeit hat deutlich nachgelassen. Das Blossgeradeaus. Das Nichtlinksnichtrechtsschauen. Grenzen fransen aus. Blicke schweifen ab, werden weitläufiger, grossräumiger. Neue Erkenntnisse, neue Entdeckungen. Lockerungsübungen. Bewusstwerdung. Sensibilisierung. Das ist doch gut? Oder riskieren wir, damit Halt und Orientierung zu verlieren? Haben wir uns darum diesen Tag herbeigewünscht, an dem der Lockdown gelockert wird, sich das Land wieder öffnet, an dem unsere Gangart wieder entschiedener und schneller wird?
Farben, überall Farben, bunte und unbunte. Ich sehe das Weinrot des Radwegweisers, dessen Nummer ich folge. Das Dunkelgrün der Spargeln, welche der Bauer anbietet. Das Federleichtsilber der Pusteblume, die mich an Kindheit erinnert. Das Knallrot des Hydranten. Das Leuchtgold der Kirchuhrzeiger. Das Erdbraun der Kuh, die im Grasgrün liegt. Das Intensivblau des Himmels. Das Neongelb am Helm des Motorradfahrers – oder ist es eine Motorradfahrerin? Das glänzende Tiefschwarz des Raben – oder ist es eine Rabin? Das Rosenrot hinter dem Buck, das mein Herz lächeln lässt. Das Perlmutweiss der Apfelblüten, die den Gartenboden säumen, als hätte es geschneit. Das Taubenblau der Fensterläden an den Einfamilienhäusern am Dorfrand. Das Klarblau des Rheins, der glitzernd seine Schönheit zur Schau stellt. Das Tintenblau des Kanus, das lautlos flussaufwärts gleitet. Das Indigoviolett des Flieders, dessen Duft die Schmetterlinge anlockt. Das Frischweiss am Türrahmen des Coiffeursalons, der morgen endlich wieder öffnen darf. Das Rostrot des Milans, der lässig seine Runden dreht. O è una milanese? Das alles untermalt mit Musik in den Ohren. Riccardo Fogli singt «sì, il paradiso è qui...»
Ich denke an Johnny. Die Quarantäne muss hart für ihn sein. Für ihn, der immer wegrennt und ruhelos die Stadt durchstreicht. Der von der ganzen Welt Bestätigung sucht, um sich nicht einsam zu fühlen. Johnny geht zu Hause fast die Wände hoch, sieht die Lichter draussen und kann nicht weg. Er träumt vom Aufunddavon und von wilden Rössern, vom Anderswo und Irgendwas. Und Mary kämmt ihr Haar, kennt seine Gedanken, sagt aber nichts. Sie streicht Johnny sanft übers Gesicht und schaut, ob grad ein Film anfängt, der ihnen den Abend füllt. Mary weiss genau, dass er heute bei ihr bleibt und morgen und übermorgen auch. Sie muss sich keine Sorgen machen, nicht jetzt. Sie muss nicht mehr alleine trinken, nicht jetzt. Nicht mehr auf seine Rückkehr warten. Nicht jetzt. Jetzt ist gut.
Patti-Konzert in Wien ist abgesagt und mir blutet ein bisschen das Herz. Hätte mich so gefreut auf ein Wiedersehen mit meiner Lieblingsstadt und dieser grossartigen Poetin. Jetzt fühle ich mich ein bisschen wie ein einsamer Abenteurer, verloren auf einem Segelboot mitten im Atlantik, wo nirgends Land zu sehen ist, nicht mal zu erahnen. Ich treibe und treibe und schaukle und ritualisiere die Tage und Nächte, um mich an etwas festhalten zu können. Und alles was ich sehe, ist Himmel und Wasser. Die Sonne brennt und lacht mich aus. Ich fahre mit der Zunge über die Lippen, sauge das Salz ein und setze die Segel.
Mit dem morgendlichen Zwitschern der ersten Vögel ist mit mir auch die Zuversicht wiedererwacht. Es hat mich nicht aus den Schienen gehauen. Habe Zeit für ein Statusupdate. Allerdings ist das noch etwas diffus. Nehme mir vor, dass der erste Song, den meine iPhone-Mediathek gleich zufällig abspielen wird, den Groove des Tages bestimmen soll. Garland Jeffreys singt: «Take me to the Matador. He will know just what it's for. He will help me with my life. He will open ev'ry door...», ich wippe erleichtert in den Tag – «dürrüptüptüptüptüptüptüü».
Fühle mich verhäuslicht und überstreamt. Trete ans Fenster und hole tief Luft. Die Natur, wunderschön und absolut empathielos. Dazu passt dieser Witz, den ich bei Jürg Halter wiedergelesen habe.Treffen sich zwei Planeten im Weltall. Sagt der eine zum anderen: «Siehst schlecht aus.» Sagt der andere: «Ja, ich habe Homo sapiens.» Sagt der erste: «Hatte ich auch mal, das geht vorbei.» Ich muss kurz lachen, obwohl: heute ist Weichentag. Mal hören, was der Spiegel sagt.
Ich mag den Anblick von Rapsfeldern, dieses wunderschöne Gelb, umhüllt von verführerischem Duft, der an Sonnenschutzmilch an belebten Stränden erinnert. Noch nie zuvor hab ich diese Schönheit so bewusst betrachtet und eingesogen wie in diesem April. Der gelbe Monat. Er wird in die Geschichte eingehen – auch in meine ganz persönliche. Schärft diese Krise tatsächlich die Sinne? Betrachtet man genauer, empfindet man intensiver? Warum? Weil es so still ist? Weil man innehält? Weil man sich seiner Endlichkeit gerade bewusster wird? Weil man mit sich selber spricht? Weil man Angst hat? Weil man liebt? Weil man festhalten will? Raps gilt übrigens auch als Heilmittel: es soll abführend wirken und wundheilend.
Ein Schild, darauf steht «Gemeinschaftsgrab». Eine Wiese, darauf wachsen Gänseblümchen. Stille. Friede, Sonne. Ein Loch, das ist 40 mal 30 cm tief. Die ganze Männlichkeit, die Kraft, die Muskeln,
die Worte, Träume, Taten, Verpasstes, Erfolge, Misserfolge, Gefühle, Ängste, Freuden, Leid: eingelassen in eine kleine Urne aus Holz mit Deckel drauf. Versenkung. Was wirklich weh tut? Keine
Umarmungen. Darauf sind wir nicht vorbereitet. Das kratzt an unserer Würde.
An unserem Selbstverständnis. Das macht uns hilflos. Wir brauchen Trost. Wir brauchen Berührungen. Zwei Worte wie spitze Pfeile: Social Distancing. Was ist eigentlich das Gegenteil? Social
Rapproching? Social Gathering? Warte sehnlichst.
Ich sehe den Rhein und ahne die Nordsee. Und will sofort Meer. Sehe mich im Flugzeug sitzen. Auf einem Sitz am Fenster, obwohl ich Gang vorgezogen hätte. Und ich bestelle bei der künstlichfreundlichlächelnden Flugbegleiterin Tomatensaft mit Pfeffer. Warum bloss trinkt man im Flugzeug Tomatensaft? Und warum mit Pfeffer? Auf dem Boden käme ich nie auf diese Idee. Eine Antwort will mir nicht einfallen, bloss die, dass alles grad heftig durcheinandergeschüttelt wird. Wie auf einem Flug mit Turbulenzen. Ich freue mich auf die Landung.
Schwelgen in der Sonne. Die Gedanken zwischen Himmel und Erde. Abgeschiedene Ostertage. Dafür Fernsicht. Schaue über die Dächer, über die Bäume zum Horizont. Fast reicht der Blick bis in die Vergangenheit, von der bloss Streifen übrig sind. Momente, Sequenzen, die man vielleicht zusammenfügen kann zu einem Bild. Ein sanfter Windhauch, leichter Schwindel. Bloss einen kurzen Augenblick lang. Ich halte ihn fest.
Die Gänge sind lang und leer. Ab und zu ein weisser Kittel, der vorbeihuscht. Maskentragen obligatorisch. Ein Stockwerk runter. Wie schon am Tag zuvor, seinem Letzten, nehme ich die Treppe. Meide
Lift, Schalter, Griffe, Knöpfe.
Haus A durchqueren bis ganz ans Ende. Da liegt die Palliative Abteilung. Pallium: der Mantel, palliativ: ummanteln. E braucht keinen Mantel mehr. Der Kampf ist vorbei, überstanden, die Wärme
gewichen, das Kinn fixiert. Ich lese in der Süddeutschen Zeitung über das «Ganz am Ende». Dass das Gehirn nach dem Aussetzen des Herzschlags noch knapp dreissig Sekunden aktiv sei, bevor es
endgültig erlöscht. Dass es in dieser Zeit mit Botenstoffen geflutet werde: Serotonin, Endorphine, Dopamin. Die kennt man vom Verlieben, von schweisstreibendem Sport, vom Sex. Sie dämpfen
Schmerz. Steigern Euphorie. «Ein letztes Feuerwerk, das ein sterbendes Gehirn abbrennt, um angemessen
aus dem Leben zu gleiten.»
Ich lese mehr als vor dem Virus. Suche nach Büchern im Internet. Lese Empfehlungen. Virtuelle Klappentexte. Es ist wie Eintauchen in eine endlose Welt. E liegt im Sterben. Heute am Telefon mit G habe ich ihn stöhnen gehört im Hintergrund. Grausamer Kampf gegen den Tod. Letztes Aufbäumen. Und eine gnadenlose Prüfung für G, die ihm die Hand hält. Krame ein Zitat von Jim Morrison hervor: «Die Menschen fürchten den Tod sogar mehr als den Schmerz. Es ist komisch, dass sie den Tod fürchten. Das Leben schmerzt viel mehr als der Tod. Im Moment des Todes ist der Schmerz vorbei. Ja, ich glaube, er ist ein Freund.» Fühle mich unbeschreiblich hilflos. Was steht uns noch bevor? Nehme das gebundene Buch zur Hand, das auf dem Küchentisch liegt. Es flirtet mit mir. Es lockt mit Strand und Wellen. Es fühlt sich gut an.
Wieder mal dem Plattenspieler Schub gegeben. Denke an die vielen Samstagnachmittage in verrauchten Plattenläden. An Kopfhörer, LPs, Singles, hübsche Mädchen. Man wollte ihnen imponieren. Legte Zeugs auf, von welchem man dachte, dass coole Jungs sowas hören, obwohl man selber lieber anderes mochte. Und stiess so plötzlich ganz neue Türen auf. Ich brachte es nie übers Herz die zahlreichen Vinylscheiben wegzugeben, die sich über die Jahre ansammelten. Es gab zwar Angebote: 1 Franken pro LP, 50 Rappen pro Single. Lächerlich. Frechheit. Die Emotionen, die mit so einer Scheibe verbunden sind, sind unbezahlbar. Ziehe eine meiner ganz frühen Lieblinge aus dem Regal. Nina Hagen... «und käm ich abends spät nach Haus macht mir kein Schwanz ein Drama daraus...» Singe lautstark mit. Singen hilft.
Immer mehr geplante Partys, Ausflüge, Reisen, Konzerte müssen im Kalender gestrichen werden. Darunter eine Radtour im Mai mit P – von St. Moritz via Maloja durchs Bergell, Veltlin, Puschlav und
über den Berninapass zurück ins Engadin. Fahre mit dem Finger die Tage im Kalender ab. Bin bereits im Juli.
Die Reise nach Wien wankt. Geliebte Stadt, wo ich mit M ans Konzert von Patti Smith wollte und ins Theater und ins Jelinek und ins Phil... Soll ich noch hoffen? Soll es schnell so weitergehen wie
davor? Darf es so weitergehen wie davor?
Wird es jemals wieder wie davor? Ich denke nicht und hoffe umsomehr, dass
ich Patti noch einmal sehen und erleben darf. Schön wärs.
Momentan ist die Kraft, die von Liedern ausgeht, stärker als sonst. Sie tragen mich durch die Zeit. Meistens in die Jahre der Jugend zurück. In die späten Siebziger, die Achziger. Es erscheinen Gesichter. Schöne, junge Gesichter voller Tatendrang. Gerüche und Orte, Pfade, Wege, Kreuzungen. Ich weiss nicht wie man dieses sinnliche Phänomen des Erinnerns nennt. Es führt mich zu kuriosen Begegnungen. Ich frage die Gesichter, wie sie dem Virus ausweichen, wie es ihnen geht, ob sie gesund sind, ob ihnen die Decke noch nicht auf den Kopf fällt, ob sie zu Hause bleiben, ob sie die vorgeschriebene Distanz wahren. Sie schauen mich irritiert an, als sei ich nicht von dieser Welt. Bin ich auch nicht. Nicht mehr.
Das Verrückteste, was ich heute in den Corona-News gelesen habe, betrifft die Italiener. Genauer ihren Umgang mit der Ausgangssperre. Da Hundehaltern das Ausführen ihrer Tiere erlaubt ist, sie also Spaziergänge an der inzwischen wieder frischen Luft machen dürfen, basteln sich Nichthundehalter falsche Hunde, mechanische Attrappen, ferngesteuerte Stofftiere oder anderes Verwechselbares und gehen damit Gassi. Unvernünftig klar, ilegal auch, aber irgendwie auch kreativ und zum Schmunzeln.
Da liegt noch der Gutschein vom Geburtstag: 100 Franken für Künstlerbedarf in meinem Lieblingsladen am Platz in der Stadt. Zieh mir den Pulli über, die Schuhe an. Wo ist die Sonnenbrille? Wart, bloss nichts überstürzen. Ich schau' zuerst im Internet nach: Heute geöffnet bis 18.30 Uhr, alles gut, alles wie immer. Vergeblicher Versuch, alles geschlossen, logisch Mann. Ein Aushang an der Türe: «Wegen der Verordnung des Bundesrates... leere Parkplätze, wo man hinschaut, sonst rare Luxusgüter. Kein Mensch zu sehen. Die Bsetzisteine haben sich herausgeputzt, geniessen ihre Pracht. Schöne Stadt. Ein Velo steht angelehnt an meinem Lieblingsbrunnen, auf dem ich früher oft sass und die Beine baumeln liess. Es wirkt verloren und verlassen, aber es trotzt der Leere. Den Gutschein in der rechten Hand – ich umfasse ihn fester... ihn jetzt bloss nicht verlieren.
Ertappe mich, wie ich beim Joggen den weiten Weg nehme. Kommt mir bloss nicht zu nah. Halte den Atem an beim Queren. Verdammt! Das Virus ist im Kopf. Um die Älteren mach ich einen noch grösseren Bogen, dabei bin ich selber älter.
Was das wohl für einen Zusammenhalt hat. Seit dieses Virus die Welt flach legt, scheint draussen gefühlt jeden Tag die Sonne. Die Vögel zwitschern, die Pflanzen gedeihen. Ungestört. Der mächtige Mammutbaum im Park lacht. Die Erde unter ihm erholt sich. Er bekommt Luft. Dieser Mordskerl ist über hundert Jahre alt. Was hat er alles erlebt? Was hat er alles gesehen? Könnte er bloss erzählen.