Die Eingangstüre fällt sofort auf. Dieses aggressive Rot, das einem nach etlichen grauen Treppenstufen, die hinunter in den Abgrund führen, willkommen heisst. «Athletic Box Club, Charly
Bühler, Box & Turnlehrer» steht da geschrieben. Ein bedeutungsvoller Ort mitten in Bern, an dem das Drama, das von Aufstieg und Fall erzählt, vor 34 Jahren seinen Anfang nahm. Wiedersehen
mit Enrico Scacchia.
Dieser schöne, stolze Mann mit italienischen Wurzeln und dem grossen Herzen, der als eines der grössten Versprechen im Schweizer Sport galt, als Boxer mit Zukunft, der als Schüler von Charly
Bühler Mitte der Achtziger zweimal um den EM-Titel fightete - und zweimal verlor. Ein eitler Modellathlet mit schwarzem, krausem Haar, buschigen Brauen über den dunklen Augen, sichtbaren
Wangenknochen.
Das Bild von früher verschwindet augenblicklich. Da steht er, real. Wie eine Erscheinung tritt er aus der Finsternis heraus in den Schein des unruhig flackernden Neonlichts. Er grinst ein
undeutliches «Ciao» durch den Bart und streckt den Boxhandschuh zum Gruss aus. Enrico Scacchia,
45 Jahre, nicht fett, aber massig-muskulös, in ärmellosem T-Shirt, dunkelblauer Trainingshose und fahrig heruntergerollten Socken, die in Schuhen stecken, die mehr an Wandern als an Boxen
erinnern. Da sind keine Locken mehr zu sehen, keine Backenknochen. Dafür fällt dieser ausgeprägte Nacken auf. Einer, wie ihn sonst nur Mike Tyson hat. «Das kleine Pflaster hier auf der Brust»,
sagt Enrico in die Stille, «soll die Durchblutung fördern. Ich probier das jetzt einfach mal aus.»
Enrico Scacchia explodiert.
Schlägt einen harten linken Cross, lässt eine rechte Gerade folgen, bückt sich, weicht aus, schlägt wieder zu. Die Linksrechts-Kombination hallt dumpf nach, der alte Sandsack ächzt. «Siehst du?»,
keucht Scacchia,
«alles noch da, wie früher!» Er trainiere jeden Tag zwei bis vier Stunden. Wirklich? Enrico ist ausser Atem, schwitzt, klaubt mit den Boxhandschuhen eine Plastikflasche mit der Aufschrift
«Destilliertes Wasser» aus seinem blauen Rucksack, setzt an, trinkt. Ist das nicht ungesund? Wieder dieses Grinsen. «In der Apotheke, in der ich die Flasche kaufte, haben sie mich gewarnt. Zu
viel von dem chemisch reinen Wasser ohne Mineralien könne tödlich sein. So ein Unsinn! Oder bin ich etwa tot?»
Enrico Scacchia hat
alles durchgemacht. Aufstieg, Erfolg, Familienglück. Abstieg, Niederlagen, Scheidung, Tiefschläge. Am schlimmsten traf ihn die Trennung von seinen Kindern; Tochter Liù, heute 21, und Sohn Julian,
19. «Zum Mann wurde ich erst, als ich die weiblichen Gefühle zum Ausdruck brachte», sagt er und verstaut die Wasserflasche wieder im Rucksack. «Den Kindern die Windeln wechseln, sie waschen,
ausziehen, liebkosen, für sie kochen, wieder liebkosen: Erst durch die Kinder habe ich erfahren, was Liebe ist.» Nach der Scheidung vor 16 Jahren wurde Scacchia das
Besuchsrecht eingeschränkt, zeitweise ganz entzogen. Er kämpfte wie ein verletzter Stier um seine Liebsten und endete in der Psychiatrischen Klinik Waldau, Abteilung G, Zimmer 206. Weil er am
Ende eine Frau bedrohte, die er für die Trennung von seinen Kindern verantwortlich machte.
Gebodigt, ausgeraubt
Da hatte er längst alles verloren: Ruf, Publikum, Geld, Frau, Kinder, sogar die Boxlizenz. Die wurde ihm 1992 aufgrund des Gutachtens eines Berner Neurologen entzogen. Dessen Befund eines
fortschreitenden Hirnschadens stempelte Scacchia zum
bekloppten Invaliden ab. Es nützte ihm nichts, dass ein weiteres Gutachten des Universitätsspitals Zürich sieben Jahre später zu einem anderen, für ihn günstigeren Befund kam. Der
Sportler Scacchia war
gebodigt, ausgeraubt, erledigt.
Es kommen Männer in den Boxkeller. Einer nach dem anderen. Durchschnittsalter weit über vierzig. Geschäftsleute, die sich zweimal pro Woche über Mittag fit halten. Training mit Max Hebeisen, der
den Boxkeller als Nachfolger von Charly Bühler in der dritten Generation führt. Die meisten erkennen «dä Enrico» auf den ersten Blick, obwohl der sich hier unten seit vielen Jahren nicht mehr
blicken liess. Seit er sich von seinem Trainer Bühler trennte, eiskalt, wie er selber sagt. Einige waren hier bereits aktiv, als Enrico als 11-Jähriger zum ersten Mal auftauchte, um sich die
Boxhandschuhe schnüren zu lassen. Ein scheuer, dünner Knabe, Sohn italienischer Einwanderer, der vom Vater verlassen, von den Mitschülern gefoppt, von der Mutter verprügelt wurde und diesen
Erniedrigungen für immer ein Ende setzen wollte.
Die Männer sind freundlich, bleiben aber auffallend unverbindlich, entziehen sich jedem längeren Gespräch. Zwei, die sich vor dem alten schwarzen Klavier in der Ecke aufwärmen, tuscheln
verstohlen. «Hier habe ich Freunde», sagt Enrico und schlägt erneut auf den Sandsack ein - wild, ruhelos. Seine kräftigen Oberarme zieren Tattoos. Links steht Liù geschrieben, rechts Julian.
«Seit drei Jahren wohnt meine Tochter bei mir in Bümpliz», schnaubt er stolz. «Die Fernsehsender habe ich plombieren lassen, und das Modem des Computers schliesse ich nur im Notfall an. Sie
wusste, was auf sie zukommt, und akzeptiert.» Liù hat Coiffeuse gelernt wie ihre Mutter. Julian ist Koch. Der Vater seufzt: «Leider haben sie kein Interesse am Sport.»
Gescheitert, verletzt
Scacchia hat
nach dem Training nicht geduscht, sich nur einen schmuddeligen weissen Strickpulli mit einem gelben Fleck auf Brusthöhe übergezogen. Nachdenklich sitzt er im Café gegenüber dem Boxkeller und
rührt im kalt gewordenen Cappuccino. Dann wird er laut, zitiert abwechslungsweise aus der Bibel und der Philosophie. Gäste verstummen, schauen verstört herüber. Er predigt, beschwört, zieht
Gleichnisse heran, spricht in Rätseln. Und man kommt ins Grübeln, fragt sich: Ist es das wert? Boxen als ein Sport, der darauf angelegt ist, das Gehirn zu lähmen, ist kaum mehr zu verteidigen.
Auf Fragen gibt Scacchia ausufernde
Antworten, die im Irgendwo versinken. Dann verstummt er, verliert sich in seinem Abbild, das sich im Fensterglas spiegelt. Und ist plötzlich wieder voll da, löst sich aus der geistigen
Verfangenheit, bringt alles auf den Punkt. Wie eben, als er auf den Sandsack eindrosch, so vehement, als müsste er sich und all den anderen seine weltliche Existenz beweisen, zur Wahrung der
eigenen Bedeutung.
«Sind Sie einsam?» - «Nein, ich habe meine Erfüllung in Jesus gefunden. Und ich habe Freunde, wenn ich welche brauche.» - «Sind Sie gescheitert?» -«Oh ja, als Boxer bin ich gescheitert und das
ist gut so.» - «Gut so?» - «Hätte ich nicht alles verloren, hätte ich mich nie gefunden. Erst durch das Scheitern habe ich das Wesentliche erkannt. Der Mensch ist zu klein, um
Grösse
vorzutäuschen. Und wer sich gross macht, bietet Fläche an, wird verletzlich.»
Scacchia hat
sich von seinen Verletzungen nicht mehr erholt. Die Vergangenheit lässt ihm keine Ruhe. Seinem ehemaligen Trainer hat er mehrere Briefe geschrieben, um Ungeklärtes aus der Welt zu schaffen, um
Ordnung ins emotionale Chaos zu bringen. «Lieber Charly...», Antwort bekam er nie. Er denkt viel nach, über die Macht der Mächtigen. Über Menschen, die andere Menschen gegen deren Willen in die
Klapsmühle stecken dürfen. Verzeihen kann er nicht. «In der Bibel steht ‹Liebe deinen Nächsten› - nur das hält mich davon ab, etwas zu tun, was ich nicht sollte.» Er findet keinen Frieden, ist
aber bemüht, einen Weg aus der geistigen Vereinsamung zu finden, in die er sich zurückgezogen hat. Kürzlich ist er zu Fuss von seiner Wohnung in Bümpliz nach Bern gelaufen. Wie er das oft tut,
weil er doch kein Auto hat und wenig Geld. Doch dieses Mal ist er mit offenen Sinnen losmarschiert und unterwegs verschiedensten Menschen begegnet. Einem türkischen Bäcker, der ihm Brot schenken
wollte. Einem tamilischen Verkäufer, mit dem er sich nett unterhalten konnte. Einem jungen Mann, dessen Vater früher ein Fan von ihm war und der ihn zum gemeinsamen Training auffordern will. Und
einer hübschen Krankenschwester, die dem Italiener in ihm gefiel. «Was solls...», hat sich Scacchia gesagt
und den Gedanken sofort weggewischt. Früher war er als Frauenheld bekannt. Doch seit zwölf Jahren hat er keine Frau mehr angefasst. «Chätzli sind nur schön zum Anschauen», pflegt er seinen Sohn
zu lehrmeistern. «Wenn du sie aber berührst, hast du ein Problem.» Eines Tages habe er den Herrn angefleht: Warum nimmst du mir nicht die Lust? «Er hats dann gemacht.»
Neu geboren
Enrico Scacchia passt
nicht in unsere Vorstellung von Norm. Er bleibt eigen in seiner beschränkten Welt, in der ihm Jesus Halt gibt und zu geistiger Freiheit verhilft. Man mag diesen Mann bedauern oder fürchten.
Gewiss ist: Er ist ein lieber Kerl. Manchmal scharfsinnig und herausfordernd provokativ, oft kindlich lustig und offenherzig, immer ehrlich und authentisch. «Haben Sie Angst vor der Zukunft?» -
«Klar habe ich Angst. So wie ich früher vor jedem Kampf Angst hatte. Nur wollte ich das damals nicht zugeben. Ich spielte die Rolle des furchtlosen Helden. Heute muss ich das zum Glück nicht
mehr.»
Eigentlich will man ihn jetzt nicht gehen lassen, lieber beschützend den Arm um die Schulter legen, ihm als Vorboxer den Weg ebnen, das Böse dieser Welt vom Leibe halten, Freundschaften
vermitteln. Doch dann marschiert er davon, so zielgerichtet und entschlossenen Schrittes, dass man sich solcher Gedanken augenblicklich schämt, weil er Hilfe gar nicht will und nötig hat. Er
schwingt den blauen Rucksack über die Schultern, schaut zurück, hebt den Kopf und bewegt die Lippen, als wollte er wiederholen, was er vorher im Café bereits ausgesprochen hat: «Keine Sorge, es
ist alles in Ordnung. Wer sich findet, wird neu geboren. Und ich habe mich gefunden.»