Der 16-jährige Dribbelkünstler Lamine Yamal ist der Neue Stern am europäischen Fussball-Himmel


Lamine Yamal, dribbelstarker Linksfuss, Ballstreichler und Zauberlehrling.
Lamine Yamal, dribbelstarker Linksfuss, Ballstreichler und Zauberlehrling.

«Billion Dollar Baby»

Scheinbar ein Leichtes, wie er den Pass direkt annimmt und den Ball aus zwölf Metern mit seinem linken Fuss in die weite Ecke des georgischen Keepers schlenzt. Ein wunderschönes Tor bei strömendem Regen, das den Wuschelkopf zum jüngsten Torschützen Spaniens macht. Ein Tor für die Geschichtsbücher. Nach dem Spiel wird Lamine Yamal sagen, dass er gerade seinen Traum lebe. «Ich bin sehr glücklich und danke allen, die mir Vertrauen schenken und mich auf meinem Weg unterstützen.»

Das klingt abgebrüht und reif für einen Teenie, der im Juli gerade 16 geworden ist. Ein Kind noch und trotzdem schon so weit, dass man nur mit offenem Mund zuschauen kann und staunend applaudieren muss. Im August gab Yamal sein Debüt in der 1. Mannschaft von Barcelona, damals noch 15, inzwischen ist er Stammspieler, Nationalspieler, Nationalmannschafts- und Liga-Torschütze, Rekorde-Brecher.

Ein dribbelstarker Linksfuss, der auch mit rechts aussergewöhnlich gut ist, ein Zauberer und Ballstreichler, ein weiteres riesiges Talent aus der «La Masia»-Schmiede der Katalanen, wo schon spätere Weltstars wie Busquets, Fabregas, Iniesta, Messi, Puyol, Xavi oder Piqué geformt wurden.

Zahlen, die tonnenschwer wiegen

Wenn Yamal am rechten Flügel angespielt wird, ein paar Körpertäuschungen macht, dann nach innen zieht und den Ball mit links ins entfernte obere Kreuzeck schiesst, wie er es kürzlich bei der U17-WM gegen Frankreich gezeigt hat, dann erinnert er an Arjen Robben. Wenn er blind unmögliche Pässe in den plötzlich frei werdenden Raum spielt, dann an Messi. Wenn er einfach am richtigen Ort steht, wie bei seinem ersten Liga-Tor am Sonntag in Granada, dann an Lewandowski. Doch gemach: Solche Vergleiche schüren bloss gigantische Erwartungen.

Noch gleicht seine Karriere einem Märchenbuch. Er wirkt unbeschwert, fröhlich, völlig gelöst. Wunderbar, ihm zuzuschauen. Doch seit letzter Woche hat sich etwas verändert. Es geht um Zahlen, die auch tonnenschwer wiegen können.

Die Barça-Bosse – herausgefordert von der eigenen Legende, dem jetzigen Manchester-City-Trainer Pep Guardiola, der längst ein Auge auf das Supertalent geworfen hat – verlängerten mit Yamal und dessen neuem Berater Jorge Mendes den Vertrag. Gern hätte der Klub ihm gleich einen Lebensvertrag hingelegt, doch einen 16-Jährigen darf man nicht länger als zwei Jahre vertraglich binden. Dafür wurde der neue Kontrakt bis 2026 mit einer unfassbaren Klausel aufgepeppt: Will ein anderer Klub ihn aus dem Vertrag kaufen, muss er eine Milliarde Euro auf den Tisch legen.

Neue Kapitel müssen geschrieben werden

Eine Milliarde: Dafür könnte man sich 45 000 Autos der Mittelklasse zulegen, sich zwei Luxuskreuzfahrtschiffe kaufen oder viermal die Allianz-Arena in München bauen. In Anlehnung an den Kinofilm «Million Dollar Baby» mit Clint Eastwood und Hilary Swank könnte man Yamal also «Billion Dollar Baby» nennen, auch wenn das mit den Dollars und Euros nicht ganz aufgeht.

Die Nationalmannschaft Spaniens hat gerade einen grandiosen Lauf. Mit Schwung, Spielfreude und jugendlicher Sonderklasse fegte sie in der EM-Quali im September Georgien (7:1) und Zypern (6:0) weg. Morgen Donnerstag gehts weiter mit dem Heimspiel gegen Schottland, am Sonntag mit der Partie in Norwegen – ohne Yamal. Der 16-Jährige leidet an muskulären Problemen und ist von der Nationalmannschaft abgereist. Ein erster kleiner Rückschlag für den Jungen, vielleicht auch der grossen Belastung der letzten Wochen geschuldet.

Dass man älter wird, merkt man auch daran, dass die Fussballstars plötzlich verschwinden, mit denen man die letzten Jahrzehnte verbracht hat und die wie ganz selbstverständlich zum Alltag dazugehörten. Plötzlich ist Messi in Florida, Neymar mit Benzema in der Wüste. Modric und Kroos denken an Rücktritt. Ibrahimovic liegt bereits am Pool an der Sonne, Bale spielt Golf, Behrami ist verschwunden. Neue Kapitel müssen geschrieben werden – mit neuen Namen.

Immer jünger, immer besser, kaum 20 und schon gestandene Spieler mit riesigem Poten-zial und goldenen Aussichten: Lamine Yamal (16, Barça), Pedri (20, Barça), Gavi (19, Barça), Ansu Fati (20, Brighton & Hove Albion), Jude Bellingahm (20, Real), Jamal Musiala (20, Bayern), Rayan Cherki (20, Lyon), Florian Wirtz (20, Leverkusen), Eduardo Camavinga (20, Real). Das sind nur einige Namen, es gibt bestimmt noch mehr.

Er hätte auch für Marokko spielen können

Nicht alle kommen durch. Für die einen ist der Erwartungsdruck zu gross, die anderen werden von Verletzungen gestoppt, wieder andere heben ab und fallen tief. Sportliche Krisen werden irgendwann alle erleben, die so jung durchstarten. Die Frage ist: Wie gehen sie damit um, wenn das Selbstverständnis angekratzt ist und neben den Schulterklopfern plötzlich auch Nörgler und Kritiker auftauchen?

Yamal ist bisher auf dem Boden geblieben. Dafür sorgte auch der spanische Verband. Als der Junge im Februar bei der U17 mit anderen Spielern über die Stränge schlug, wurde er wegen «schwerwiegender disziplinarischer Gründe» für eine Weile aus dem Verkehr gezogen – mit ausdrücklicher Zustimmung und Unterstützung von Barcelona, seinem Klub. Offensichtlich ein Warnschuss zur richtigen Zeit.

Dass Yamal überhaupt Teil der spanischen Nationalmannschaft ist, ist für die Iberer ein Glücksfall. Sein Vater ist Marokkaner, seine Mutter stammt aus Äquatorialguinea. Lamine hätte sich auch für Marokko entscheiden können. Die Fussballnation, die Spanien im Dezember an der WM in Katar im Achtelfinal eliminiert hatte. Er wählte Spanien, sein Geburtsland, und bereut es nicht: «Ich bin sehr zufrieden, dass ich mich so entscheiden habe. Es liegt ein sehr langer Weg vor mir mit Spanien, und ich hoffe, wir werden zusammen vieles gewinnen.» Bis zum nächsten Auftritt im Nationaltrikot muss sich Yamal nun aber wegen seiner Verletzung bis im November gedulden. Dann spielt Spanien in Zypern und gegen Georgien.


Erschienen im BLICK vom 11. Oktober 2022 / Patrick Mäder

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